Stephan Grünewald ist Deutschlands wohl bekanntester Marktforscher. Als Gründer des Rheingold Instituts fühlt er den Endkonsumenten auf den Zahn. Als Diplom-Psychologe und Bestsellerautor hat er in mehreren Titeln die Eigenarten der Deutschen beleuchtet – und kam zum Befund einer „erschöpften Gesellschaft“.
Doch wie geht es uns heute vor dem Hintergrund der Corona-Pandemie und des Ukraine-Kriegs? Können Natur und Sport eine gesellschaftliche Stütze sein? Wie kam es zum großen Outdoor-Boom – und wie nachhaltig ist er? Im Interview mit ISPO.com gibt Stephan Grünewald Antworten – und erklärt, warum gerade jetzt die OutDoor by ISPO (vom 12. bis 14. Juni in München) so wichtig für die Branche ist.
ISPO.com: Herr Grünewald, einst schrieben Sie von der „erschöpften Gesellschaft“ – nun kommen auch noch Belastungen durch Pandemie und Kriegsangst hinzu. Wie steht es um die Psyche unserer Gesellschaft heute?
Stephan Grünewald: Wir haben in unseren Studien vor Kriegseintritt schon eine resignative Grundhaltung bei den Menschen festgestellt. Sie haben das Gefühl, zwei Jahre lang alles versucht zu haben, aber es kam immer wieder die nächste Pandemie-Welle und machte alles wieder zunichte. Da entsteht ein Gefühl der Perspektivlosigkeit bei den Menschen. Viele beschreiben jetzt nach zwei Jahren Pandemie, wie antrieblos, wie lustlos sie sind. Viele haben dieses Gefühl, nicht mehr spontan agieren zu können, weil alle Pläne sowieso wieder auf den Prüfstand geraten.
Viele Menschen haben sich so in einer Art Enttäuschungsprophylaxe eingerichtet. Das heißt, bevor man wieder enttäuscht wird, macht man keine großen Pläne. Das ist ein Zustand, der sehr stark an einen Zustand der Melancholie erinnert. Leute kreisen sehr um sich, haben Schuldgefühle. Selbstkontrolle spielt eine große Rolle. Die Menschen befinden sich nach zwei Jahren in einem Zustand von „Melancovid“.
Und dann kam im Februar noch der Krieg in der Ukraine hinzu …
Auf diesen „Melancovid“-Zustand trifft jetzt diese Kriegsangst, die gerade in der Anfangszeit eine Schockwirkung auf die Menschen hatte, weil man das Gefühl hat, dass mit einem Schlag eine Kriegswirklichkeit in unseren Alltag bricht, die ein unberechenbares Eskalationspotential birgt. Das führt dazu, dass man sich ohnmächtig fühlt, paralysiert wie das Kaninchen vor der Python.
Wie verarbeiten die Menschen diese neue Realität?
Ein Mechanismus war vor allem in den ersten zehn Tagen das ständige Updaten der Nachrichtenlage. Dann merken die Menschen, dass sie das immer stärker in die Kriegswirklichkeit hereinzieht. Dann hat sich eine breite Bewältigungsform entwickelt, die wir „Normalitätsbeschwörung und Ablenkungsmanöver“ nennen. Die Leute versuchen, auf andere Gedanken zu kommen, indem sie sich in Arbeit stürzen, aber auch indem sie in die Natur gehen, indem sie wandern.
Inwiefern kann Wandern und Outdoor-Sport bei der Bewältigung helfen?
Die Natur hat ihren eigenen Rhythmus, in dem man sich aufgehoben fühlt, der ganz und gar nicht unberechenbar und kriegerisch ist. Die Natur wird im Moment zu einem Versöhnungsangebot für die Menschen.
Ist der Gang in die Berge also eine Art Selbsttherapie?
Es gibt auch Menschen, die überlegen, über alle Berge zu fliehen. Das ist eine weitere Bewältigungsform, dass man mental schon seine Koffer packt und überlegt, in welchen Weltgefilden ich von Weltkrieg und Atomschlag sicher bin. Aber das sind natürlich die kleinen Fluchten. Das bringt dann auch eine seelische Naherholung.
Warum musste eigentlich erst eine Pandemie kommen, um mehr Menschen ins Freie zu bewegen und so für einen Outdoor-Boom zu sorgen? Haben wir zuvor verlernt, die Natur zu genießen?
Ich würde das anders sagen. Die Deutschen sind von einer notorischen, oder eher motorischen Unruhe geprägt. Wir sind nicht so in uns ruhend wie die Franzosen oder Amerikaner, die ein festes Selbstbild haben, das sie ausrichtet. Wir sind immer auf der Suche nach dem Sinn. Eine dieser Suchformen hat uns zum Reiseweltmeister gemacht. Wir kanalisieren unsere Unruhe, indem wir auf die Welt ausgreifen. Das war jetzt in der Pandemie verstellt. So sind wir vom Reiseweltmeister zum Wanderweltmeister mutiert.
Bleibt das auch nach der Pandemie so?
Wir werden wieder mehr reisen, aber das Reisen vollzieht sich in konzentrischen Kreisen: Erst innerhalb Deutschlands, dann Österreich und Mallorca - also die angestammten und vertrauten Urlaubsländer der Deutschen. Und irgendwann wird der Radius auch wieder weiter gehen.
Und der Outdoor-Boom? Bleiben auch die Berge und Trails vor der eigenen Haustür interessant?
In den zwei Lehr- und Wanderjahren, die wir jetzt hatten, ist der Wilhelm nicht nur zum Meister geworden, sondern er hat seine Umgebung kennengelernt und dadurch erst erfahren, welche Beglückungsräume es im Umland gibt. Manche kannten sich im Ausland besser aus als in der eigenen Umgebung.
Teamsportarten waren lange wegen der Kontaktbeschränkungen nur sehr beschränkt oder überhaupt nicht möglich…
… dafür haben die Intimsportarten zugelegt. Gerade im ersten Lockdown in Deutschland hat bei vielen gerade jüngeren Paaren die sexuelle Experimentierlust geweckt.
Neben Intimsport hat auch der Individualsport von den Kontaktbeschränkungen profitiert. Gibt es nun wieder die Pendelbewegung zurück zu den Vereinen und Teams im Breitensport?
Es wird natürlich eine Pendelbewegung geben, aber ich glaube nicht, dass die extrem ausschlägt. Wir haben in unserer Melancovid-Studie die Menschen gefragt, wie sie sich verhalten wollen, wenn die Pandemie vorbei ist. Neun Prozent sagen, sie wollen das Leben feiern, mehr machen und geselliger sein. 25 Prozent sagen, sie machen es wie vor der Pandemie. Aber zwei Drittel sagen, sie wollen weiterhin etwas reduzierter, vorsichtiger agieren. Man kann sagen: Je älter die Menschen, desto geringer die Bereitschaft, sich wieder auf Gemeinschaft und Teams einzulassen. Bei den Jüngeren bin ich aber optimistisch, dass sie wieder in die Vereine zurückkehren.
Nach pandemiebedingter Pause ist Europas größte Outdoor-Messe, die OutDoor by ISPO, im Juni zurück. Wie wichtig ist es für die Branche, endlich wieder bei einer Messe persönlich zusammenzukommen?
Eine Messe hat unterschiedliche Faszinationspotentiale. Sie hat natürlich immer den Ausstellungs-Part, aber es geht ja auch darum, sich selbst zu präsentieren. Es gibt einen Wert der analogen Begegnung. Ich glaube, die gegenseitigen Feedback- und Lobformen sind digital weniger stark ausgeprägt. Das Bad in der Menge zu suchen und mit Kollegen zu sprechen, sich auf die Schulter klopfen zu lassen, ist ganz wichtig.
Aber es ist auch bedeutsam, durch ein Rahmenprogramm ein Event zu zimmern, das das Gefühl vermittelt, wie groß und bedeutsam die Outdoor-Branche ist. Eine Messe schafft einen Rahmen, in dem der einzige Aussteller über sich hinauswachsen kann und mit Stolz erleben kann, in was für einer bedeutsamen Branche er unterwegs ist. Das klappt digital nicht.
Mit welcher Message können Outdoor-Marken die Menschen aktuell am besten erreichen? Und was kommt momentan nicht gut an?
Eine Marke macht ein Verfassungsangebot. Wie genau das ausgesteuert wird, hängt vom Marken-Image ab. Wichtige Botschaften für Outdoor-Marken sind aber, in Einklang mit der Natur zu sein, Selbstwirksamkeit zu spüren und sich herauszufordern, ohne sich auf Höchstleistungen trimmen zu müssen. Dieses „höher, schneller, weiter“, bei dem man im Schweiße seines Angesichts in die Landschaft blickt, muss nicht sein. Denn die Martialität haben wir schon im Kriegsgeschehen. Es geht eher wieder darum, zur Ruhe zu kommen, eine innere Balance zu finden, mit anderen etwas zu unternehmen.
Zu guter Letzt: Haben Sie konkrete Alltags-Tipps für den Umgang mit der aktuellen Weltlage? Wie komme ich als Individuum mental möglichst gesund durch diese Zeit?
Den Nachrichtenkonsum auf zwei- bis dreimal am Tag zu konzentrieren, um nicht in diese Krisendauerschleife zu geraten. Halt und Stabilität in den Routinen des Alltags zu finden, ist wichtig. Aber auch, und dafür gibt es eine große Bereitschaft, irgendwas, um aus der Ohnmacht herauszukommen, etwas Sinnvolles machen zu können. Also beispielsweise zu spenden oder Wohnraum zur Verfügung zu stellen. Das gibt das Gefühl, diesem Kriegsgeschehen nicht ohnmächtig ausgeliefert zu sein. Herr Habeck hat das im Hinblick auf das deutsche Gas-Dilemma recht überzeugend gesagt: Jede kleinste Ersparnis, jeder Beitrag hilft. Denn in der Summe können wir so ganz anders haushalten. So lenken wir uns nicht nur ab, sondern können auch einen kleinen Beitrag leisten, die Krise zu bewältigen.
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