Stefan Ludwig bringt die enorme Bedeutung von Vereinen und Communities in Europa und der ganzen Welt auf den Punkt. "Sport bringt Menschen zusammen, egal ob im Handballverein, beim Public Viewing oder im Fitnessstudio. Was sonst großartig ist, wurde in der Pandemie zum Problem", erklärt der Partner und Leiter der Sportbusiness-Gruppe bei Deloitte. "Individualsport war natürlich weiterhin möglich, aber das Training in einer Gemeinschaft bringt nicht nur Spaß, sondern auch zusätzliche Motivation.“
Diese Meinung teilt auch Prof. Dr. Alexander Ferrauti, Präsidiumsmitglied im European College of Sport Science (ECSS). Er sorgt sich im Gespräch im ISPO.com besonders um die gesundheitlichen Langzeitfolgen der Sport-Einschränkungen für die Menschen in der Corona-Pandemie: „Die Bewegungsarmut schadet dem gesamten Organismus vom Abbau der Skelettmuskulatur über die Störung neuromuskulärer Funktionen bis hin zu den Problemen für das Herz- und Kreislaufsystem. Selbst der Stoffwechsel leidet.“
Besonders betroffen davon sind Senioren, für die regelmäßiges Sporttreiben in vereinen und Communities unerlässlich ist. Bessere Perspektiven als die ältere Generation haben Kindern, wenn sie nach der Corona-Pause zurück zum Sport und den Communities finden würde. Ferrauti: „Da muss man motivierende Programme finden und die Gruppendynamik nutzen.“
Dabei könne es durchaus auch Synergien zwischen traditionellen Sport-Communities wie Vereinen und neuen in der Pandemie entstandenen Netzwerken geben. Ferrauti nennt als Beispiel die Software Zwift, bei der Radfans aus aller Welt ihre Rennräder und Mountainbikes daheim auf eine Rolle stellen und dann virtuelle Rennen gegen Sportler aus aller Welt fahren können.
Corona hat die Welt der Vereine und Communities verändert. Rund 40 Prozent weniger sportlich aktiv waren die Menschen während des ersten Corona-Lockdowns in Europa. Gleichzeitig stieg laut einer internationalen Studie unter Leitung der Uni Frankfurt der Anteil der Personen mit dem Risiko von Depressionen – auch weil die soziale Komponente des Sports in Communities und Vereinen fehlt - um das Dreifache. Das zeigt die immense soziale Bedeutung des gemeinsamen Sporttreibens.
20 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus 14 Ländern warnen in der Untersuchung vor den gravierenden Langzeitfolgen der sportlichen „Regierungen und Verantwortliche für das Gesundheitssystem sollten unsere Erkenntnisse ernst nehmen“, betont das Team unter Leitung von Dr. Jan Wilke vom Institut für Sportwissenschaften der Goethe-Universität Frankfurt.
Auch die "Sports Retail Study", für die Deloitte Anfang 2021 über 11.000 Menschen in 20 europäischen Ländern zu ihrem Sportverhalten und -konsum befragt hat, bringt alarmierende Ergebnisse. Der Anteil der Menschen, die mehrmals pro Woche trainierten, sank im Vergleich zu vor der Pandemie von 49 auf 43 Prozent. Der Rückgang war in allen europäischen Ländern zu beobachten – mit Ausnahme von Staaten wie Schweden, in denen es keinen harten Lockdown gab.
Statt in Communities Sport zu treiben, trieb es die Menschen vor den Bildschirm: Über 35 Prozent gaben an, mehr Sportunterhaltung konsumiert zu haben. Auch die Sportbekleidungsindustrie litt unter den Einschränkungen: 30 Prozent der Befragten in Europa gaben während Corona weniger für Sportkleidung und -ausrüstung aus.
Auch die Mitgliederentwicklung in Sportvereinen und -Communities ist alarmierend. Eine Studie dazu („Zur Situation der Sportvereine“) gibt es nur für Deutschland, wo zwischen den zwei Erhebungspunkten im März 2020 und Ende 2020/Anfang 2021 die Zahl der erwachsenen Mitglieder in Sportvereinen um gut 8 Prozent gesunken ist.
„Die Daten zeigen darüber hinaus, dass die Austritte von Sportvereinsmitgliedern vor allem auch zu Lasten jener gesellschaftlichen Gruppen gehen, die in Sportvereinen bereits vor der Corona-Pandemie unterrepräsentiert waren: Personen mit Migrationshintergrund, bildungsfernere Gruppen, aber auch Frauen“, heißt es in der Studie. Auch wenn das Vereinswesen in Deutschland im europäischen Vergleich besonders stark ist, lassen sich die Ergebnisse auch auf die Sport-Communities auf dem gesamten Kontinent übertragen.
Da wegen des fehlenden Sporttreibens die Energiebilanz positiv sei – es werden mehr Kalorien zugeführt als abgebaut – verändert sich auch die Körperkonstitution von vielen Menschen. Experte Ferrauti nennt zwei alarmierende Zahlen: Ohne die übliche sportliche Betätigung sinke binnen zwei Wochen die maximale Sauerstofftransportfähigkeit im Körper um sieben Prozent.
Im gleichen Zeitraum würden zudem die Muskeln ohne Aktivität um sechs Prozent abbauen: „Im Alter geht es noch viel schneller. Da gibt es dann keinen Rückweg mehr, denn diese Defizite können Senioren nicht mehr aufholen.“
Wie sich die sportliche Inaktivität während Corona auf künftige Erkrankungszahlen wie zum Beispiel Herzinfarkte auswirke, müssten künftige Studien zeigen. Allerdings dürften die Gesundheitskosten in Europa künftig eher steigen: Laut US-Daten sind die jährlichen Ausgaben für inaktive oder unzureichend aktive Personen um 1200 bzw. 600 Euro erhöht.
Die Europäische Union und nationale Regierungen versuchen durch verschiedene Maßnahmen, den Sport und seine Vereine und Communities zu unterstützen. Die irische Regierung hat beispielsweise 70 Millionen Euro EUR zur Unterstützung nationaler Sportverbände und -organisationen sowie Sportvereine und Basisorganisationen bereitgestellt. In der litauischen Hauptstadt Vilnius wurden Sportorganisationen sechs Monate lang von Mieten, Grundsteuern und Sportausrüstungsmietkosten befreit.
Ein Programm der rumänischen Regierung ermutigte 30.000 Kinder, Sport zu treiben. Dabei erhielt jedes Kind einen Gutschein im Wert von 100 Euro für den Kauf von Sportausrüstung, sofern die Kids eine Jahr im Verein/Club Mitglied bleiben. Ferrauti: „Wir brauchen Initiativen und neue Motivation für den Sport nach der Corona-Pandemie. Alles ist besser, als nichts zu tun.“
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