Bildcredit:
Jonathan Cooper/unsplash
Bildcredit:
Jonathan Cooper/unsplash
Find the Balance/23.06.2023

Zwischen Altersheim und TikTok-Fame: Wie "Granfluencer" die sozialen Medien aufmischen

Wir benötigen Ihre Zustimmung, um die Bewertungsfunktion zu aktivieren!

Diese Funktion ist nur verfügbar, wenn eine entsprechende Zustimmung erteilt wurde. Bitte lesen Sie die Details und akzeptieren Sie den Service, um die Bewertungsfunktion zu aktivieren.

Bewerten
Merken

Auf TikTok und Instagram sammeln „Granfluencer“ Millionen Follower. Ihre neuen Trendsportarten sind Slow Jogging oder Walking Football. ISPO.com erklärt im Rahmen der Reihe „Find the Balance“, was das für die Sportindustrie bedeutet.

Wer über 20 ist, sollte bei TikTok langsam an die Influencer-Rente denken. Wer über 60 ist, übt höchstens noch gemächliche Senioren-Sportarten wie Nordic Walking aus. Und wer über 75 ist, ist mit großer Wahrscheinlichkeit schon tot, hat es bloß noch nicht gemerkt. So hat der Jugendwahn über viele Jahre funktioniert. Doch in einer rapide alternden Gesellschaft lassen sich die selbstbewussten „New Greys“ nicht mehr an den Rand drängen.

OutDoor 2025
Vom 19. bis 21. Mai 2025 erwartet dich die OutDoor in völlig neuem Gewand! Erlebe flexible Erlebnisräume wie The Village, die wandelbare Freestyle Area und die inspirierenden New Spaces – alles designt, um zu verbinden und neue Ideen zu wecken.

Glamma – die glamourösen Grandmas

„Ich bin so alt – folgt mir, bevor ich sterbe“, empfiehlt die 82-Jährige „Grandma Ann“ der TikTok-Community. Die Nutzerinnen und Nutzer, die ihre Enkel oder Urenkel sein könnten, klicken fleißig (bevor es womöglich zu spät ist). Mittlerweile hat die US-Amerikanerin mit ihren amüsanten Clips über Unterwasser-Zumba oder über Air-Jordan-Schuhe zwei Millionen Follower und knapp 64 Millionen Likes eingesammelt. Ann ist eine von zahlreichen „Glammas“ – ein Mix aus „Glamour“ und „Grandma“ – die gerade TikTok & Co. erobern.

TikTok gegen altersbedingte Stereotypen

„Granfluencer“, wie die vier „Old Gays“, denen auf TikTok elf Millionen Userinnen und User folgen (darunter Rihanna), oder wie die 68-jährige Mode-Influencerin Lyn Slater, stellen in den sozialen Medien trotz der Beispiele immer noch eine Minderheit dar. Aber die Minderheit wird sichtbarer, lauter, selbstbewusster. Dieser Erfolg, so die Fachzeitschrift „The Gerontologist“ in einer Untersuchung, „ist entscheidend, um die altersbedingten Stereotypen herauszufordern, die unter jungen Menschen vorherrschen“.

Die US-Marketingstrategin Rahel Marsie-Hazen bringt Firmen mit Granfluencern zusammen. Partner sind beispielsweise die Sportbekleidungs- und Nahrungsergänzungsmarke Women’s Best oder das Stressabbau-Gerät Sensate. Von den Kooperationen profitieren sowohl die Marken als auch die „Silver Influencer“. Marsie-Hazen erklärt den wachsenden Markt gegenüber Yahoo so: „Leute aller Altersgruppen sehnen sich nach Authentizität, nach echten Menschen, mit denen sie sich online verbinden können.“ Und wenn sie Großeltern sähen, die ihr Leben leben, die sich verabreden, reisen und tanzen, so Rahel Marsie-Hazen, wirke das inspirierend. „Die Zeit ist einfach reif für Senioren, die bisher weitgehend übersehen wurden“.

Granfluencer-Rente ist sicher

Granfluencer, wie die erst 57-jährige „Nachwuchs-Seniorin“ Lonni Pike, die als „Gray Hair and Tattoos“ für eine Million Follower ihre coolen Tattoos auf TikTok zeigt, können mit einem einzigen Post Zehntausende von Dollar verdienen. Das Business läuft so erfolgreich, dass die „versehentliche Ikone“ Lyn Slater bereut, dass sie nicht eher in Rente gegangen ist: „Heute verdiene ich in acht Stunden teilweise so viel wie früher in einem ganzen Jahr als Lehrerin.“

Südkorea: Grey-Pop statt K-Pop

In Südkorea ist der Siegeszug der Granfluencer ein noch größerer Kulturschock als im Westen. Denn das Land definiert sich über seine wirtschaftlichen Erfolge und über die Arbeitskraft seiner Bevölkerung. Wer in Rente geht, verliert häufig seinen sozialen Status und gilt als wertlos für die Gesellschaft. Knapp die Hälfte der Rentnerinnen und Rentner lebt unter der Armutsgrenze. Die Selbstmordrate bei Menschen über 66 Jahren ist eine der höchsten der Welt. Doch statt K-Pop boomt plötzlich Grey-Pop.

„Wir sind die BTS von 2050“, scherzen die acht Mitglieder der „Ahjussis“ oder auch „K-Uncles“, die als Koreas erfolgreichste Senioren-Influencer mit ihren Mode- und Sportvideos auf Millionen von Klicks kommen, unter anderem mit ihrem Instagram-Kanal „The New Grey“. Wenn die top-gestylten Rentner um den 64-Jährigen Park Sung-man in Seoul ihre Videos aufnehmen, bilden sich Trauben junger Fans, die filmen und kreischen: „Ihr seid so cool. Ich hab Euch auf YouTube und TikTok gesehen.“ Der Social-Media-Manager Kwon Jeong Hyun hat die „Ahjussis“, ein koreanisches Wort für mittelalte Männer, gecastet und geschult wie eine Boy-Band – nur eben quasi als „Golden Boy Band“. Mittlerweile sorgen die „Ü70-BTS“ in ihrem aufwändigen, eigenen Online-Modeshop für beste Geschäfte. Der populäre Modedesigner Yong Bum Lee schwärmt: „Der Umsatz unserer Marke hat sich dank des großen Seniorenmarktes vervierfacht."

Gut gealtert? Senioren-Sport gehört die Zukunft

Laut McKinsey verdoppelt sich die Zahl der über 65-Jährigen weltweit bis zum Jahr 2050 auf 1,6 Milliarden Menschen. Das entspricht dann 16,5 Prozent der Weltbevölkerung. Und weil die meisten von ihnen aktiv bleiben wollen und Lust auf Bewegung haben, ist das Potenzial des Sports für Ältere auch für Marken und Unternehmen gewaltig. Apple bietet in seinem Wohnzimmer-Gym Fitness+ schon jetzt spezielle Kurse für ältere Menschen an. USA Today testet Fitnessausrüstung für Senioren – darunter ein Unter-dem-Schreibtisch-Fahrrad oder „Glidings Discs“, mit deren Hilfe Ältere muskel- und gelenkschonend sogar über ihren Teppich gleiten können.

Walking Football statt Nordic Walking

Neben den klassischen Senioren-Sportarten wie Nordic Walking, Wandern, Wassergymnastik, Schwimmen, Tanzen oder Fahrradfahren kommt nun immer mehr Abwechslung ins Spiel. Im Trend liegen Aktivitäten wie

  • Slow Jogging: Das gemächliche Laufen mit kleinen Trippelschritten ist ein Trend aus Japan, der die Gelenke schont und für einen gesunden Laufstil sorgt. So kommt es wesentlich seltener zu Verletzungen.
  • Aqua Zumba: Die Tanz-Fitness stärkt die Muskeln durch den Widerstand des Wassers ganz besonders.
  • Yoga: Yoga kennt kein Alter. Spezielle, sanfte und weniger anstrengende Yoga-Arten wie Hatha Yoga, Iyengar Yoga oder Kundalini Yoga sind besonders gut für Ältere geeignet. Und Yin Yoga konzentriert sich stark auf tiefere Körperschichten wie Faszien, Bänder, Sehnen und Gelenke.
  • Walking Football: Wer noch auf den Fußballplatz will, sich aber nicht mehr fit genug für beinharte Zweikämpfe fühlt, kann Walking Football ausprobieren. Der Geh-Fußball stammt aus England, kommt ohne Laufen und Körperkontakt aus, und soll trotzdem Riesenspaß machen. Da beim Walking Football das Rennen verboten ist, müssen Aktive Vielfältigkeit beweisen. Zusätzlich wird die im Alter immer stärker nachlassende Koordination gefördert und sogar verbessert.

 

„Fitness im Alter wird ein massiver Trend. 70 ist heute das neue 50“, ist der österreichische Experte und Studiobetreiber Gottfried Wurpes überzeugt, der bereits zahlreiche Altersheime mit seinen Geräten ausgestattet hat. Er prophezeit: „Ich bin sicher, dass sich Fitness im Alter massiv nach oben verschieben wird. Denn niemand möchte krank alt werden. Ein Bekannter von mir ist 67 und radelt den Berg hinauf, als ob er ein Moped wäre. Keiner würde dem sein wahres Alter ansehen.“

Marc Rohde ist Coach und Gründer der Hamburger Fitnessberatung Elbsprint Urban Sports. Er sieht für die Fitnessclubs, mit denen er zusammenarbeitet, beste Zukunftsaussichten im Bereich Best Ager: „Diese Gruppe wird in den nächsten 20 bis 30 Jahren immer weiter wachsen und ist mit ihren finanziellen Möglichkeiten eine sehr interessante und lukrative Zielgruppe. Und dieses Publikum ist durchaus bereit, für eine angemessene Leistung auf Augenhöhe auch etwas mehr zu bezahlen.“

Die Vorteile der wachsenden Zielgruppe 50+ fasst Rohde so zusammen:

  • Sie lässt überdurchschnittlich viel Geld im Studio, wenn die richtigen Angebote dafür vorhanden sind.
  • Sie sorgt für eine familiäre Atmosphäre.
  • Sie übernimmt Verantwortung.
  • Sie ist ein zuverlässiger Beitragszahler.
  • Sie agiert als „lebende Werbemaßnahme“ und bringt Familienmitglieder, Freunde und Bekannte mit.
  • Sie ist der treueste Kunde, wenn sie richtig betreut wird.

Um mit den Silver Agern goldene Geschäfte zu machen, haben Dienstleister und auch Marken aber noch viel Arbeit vor sich, meint Experte Marc Rohde: „Diese Kunden suchen qualifiziertes Personal, das adäquat antworten kann, das ihre Sprache spricht und das die Umgangsformen dieser Generation respektiert und anbietet.“

Nachholbedarf bei den Produkten

Und auch bei den Produkten gibt es noch jede Menge Nachholbedarf, siehe Apple Watch & Co.: „Herzgesundheit steht ab 50 im Mittelpunkt“, so Rohde, „deshalb sind Uhren mit Herzfrequenzmessung eigentlich das perfekte Produkt für Ältere. Das Problem ist nur, dass die meisten dieser Uhren so kleine Zeichen haben, dass ältere Menschen beim Sport eine Brille aufsetzen müssen. Da gibt es noch viel zu tun.“

Doch wenn die Voraussetzungen stimmen, wenn sich die Industrie auf diese vielversprechende Zielgruppe einstellt, ist die „Silver Society“ für die Sport- und Fitnessbranche schon bald Gold wert und „rüstig statt rostig“ wird zum Megatrend.

Themen dieses Artikels