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Nachhaltigkeit/31.08.2023

Urban Mobility: So wird das Rad neu erfunden

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Weniger Autos, mehr Raum für Mobilität ohne Emissionen: Die drohende Klimakatastrophe zwingt Städte dazu, ihre Verkehrskonzepte zu überarbeiten. Die Fahrradbranche ist einer der Gewinner dieser Entwicklung. Aber auch Anwohner*innen, Tourist*innen und sogar die lokale Wirtschaft profitieren, wie Beispiele aus aller Welt beweisen.

London bringt Bewegung in die Sache

Es wird eng für Autos in europäischen Großstädten. Ende August hat London die „Ultra Low Emission Zone (ULEZ)“ auf alle Stadtbezirke ausgeweitet. Wessen Auto eine bestimmte Schadstoffgrenze übersteigt, muss zahlen. Dafür haben alle Londoner*innen mit nicht ULEZ-konformen Autos und Motorrädern Anspruch auf eine Abwrackprämie, die den Umstieg auf ein schadstoffarmes Auto oder andere Verkehrsmittel erleichtern soll. Im Londoner Stadtteil Waltham Forest wurden schon zuvor Wohnquartiere, sogenannte „villages“, verkehrsberuhigt. Es entstanden 100 neue Kreisel und Kreuzungen sowie 22 km abgetrennte Radwege. Radfahrer*innen und Fußgänger*innen bekamen Vorrang vor dem Kfz-Verkehr. Nach einer Studie des Centre for London reduzierte sich der Autoverkehr dort um rund die Hälfte. Und eine Studie der University of Westminster und des King's College London zählte nach einem Jahr des Programms 10.000 Autos pro Tag weniger als zuvor. Statt im Auto zu sitzen, waren die Menschen körperlich aktiver: Im Schnitt gingen sie 32 Minuten pro Woche mehr zu Fuß und fuhren neun Minuten mehr mit dem Rad.

Tourist*innen lieben das neue Paris

Auch in Paris setzt man auf Mobilität abseits des Autos – nicht zuletzt aufgrund der Olympischen Spiele 2024, die die nachhaltigsten Wettkämpfe der Moderne werden sollen. Bürgermeisterin Anne Hidalgo baut das Angebot an Radwegen und öffentlicher Mobilität massiv aus – auch, um Paris attraktiver für Tourist*innen zu machen. Es gilt Tempo 30 und 2024 soll der Durchgangsverkehr verbannt werden. Schon jetzt werden an einem Sonntag im Monat ganze Viertel für Autos gesperrt. Ziel ist die „15-Minuten-Stadt“: Alle Bewohner*innen der Stadt Paris sollen nach diesem Konzept innerhalb von 15 Minuten alles erreichen können, was sie im Alltag brauchen – am besten mit dem Rad. Erarbeitet wird zudem ein neuer Verkehrskodex, der für mehr Respekt zwischen Auto- und Radfahrer*innen sowie Fußgänger*innen sorgen soll. Alles im Sinn einer lebenswerteren Stadt mit vielen kühlenden Grünflächen, saubererer Luft, mehr Verkehrssicherheit sowie weniger Lärm und Stress.

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Verkehrswende nutzt Klima, Menschen und Wirtschaft

Die Verkehrswende weg vom Verbrenner und hin zu Elektroauto, Bus, Bahn, Fahrrad und Co. ist nicht mehr aufzuhalten. Selbst auf der ehemals reinen Automesse IAA, die 2023 vom 5. bis zum 8. September in München stattfindet, geht es mittlerweile mehr um Mobilität als nur um den Autoverkehr. Gegenargumente erweisen sich oft als haltlos, wie viele Studien belegen. So führen Änderungen im Straßennetz nicht zwangsläufig zur Verlagerung, sondern in der Regel zu weniger Autoverkehr. Eine Meta-Studie hat bereits im Jahr 2002 über 60 Fallstudien aus elf Ländern verglichen. Sie zeigte: Verkehr verhält sich nicht wie ein natürlicher Strom, der sich den Weg des geringsten Widerstands sucht, sobald ein anderer Weg erschwert wird. Vielmehr folgt Verkehr menschlichen Entscheidungen – und die ändern sich je nach den Bedingungen. Menschen nutzen infolge der Neuverteilung des Straßenraums nicht nur andere Routen, sondern reduzieren ihre Fahrten, fahren zu anderen Uhrzeiten oder in anderen Verkehrsmitteln. Fahrtziele werden kombiniert, Mobility-as-a-Service-Dienste wie Bike-, Ride- oder Carsharing eher genutzt oder miteinander kombiniert, Stichwort: multimodales Verkehrsverhalten.

Neue Angebote wie Pedelecs, E-Bikes oder E-Lastenräder ermöglichen es zudem älteren Menschen, Handwerker*innen oder Liefer- und Paketdiensten, aufs Rad umzusteigen. Die Fahrradindustrie stellt sich darauf ein und entwickelt zunehmend individuelle Lösungen wie Cargo-E-Bikes. Im SINUS Fahrrad-Monitor 2021 geben bereits 41 Prozent der Befragten an, künftig häufiger Fahrrad oder E-Bike nutzen zu wollen. Und letztlich profitiert auch der Einzelhandel, wie der Verkehrsversuch in der Berliner Friedrichstraße zeigte: Die Hälfte der Befragten in der vorübergehend zur Flaniermeile umgebauten Straße sagten, dass sie die Verkehrsberuhigung als Anlass nehmen, die Friedrichstraße nun öfter zu besuchen. Über 80 Prozent sprachen sich darüber hinaus für eine dauerhaft autofreie Straße sowie ähnliche Projekte in Berlin aus.

International noch Nachholbedarf

Trotz der Bemühungen in Europa sowie den technischen Fortschritten bei der Energieerzeugung und den Antriebstechniken werden die CO₂-Emissionen des Verkehrssektors weltweit bis Mitte dieses Jahrhunderts noch weiter ansteigen. „Die Reduzierung der weltweiten Treibhausgasemissionen im Verkehr ist eine der größten Herausforderungen auf dem Weg zur Klimaneutralität“, sagt dazu Christian Hochfeld, Direktor des deutschen Thinktanks „Agora Verkehrswende“. „In keinem anderen Sektor sind die Emissionen seit 1990 so gestiegen wie im Verkehr, weltweit um rund 80 Prozent.“ Das läge daran, so Hochfeld, dass „das Wachstum von Wirtschaft und Bevölkerung in vielen Ländern noch nicht von der Nachfrage nach fossilen Energieträgern entkoppelt werden konnte."

In ihrem „Bericht zur Lage der internationalen Verkehrswende“ nehmen Agora und die Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ) deshalb die G20-Staaten in die Pflicht. Diese Gruppe der großen Industrie- und Schwellenländer ist für gut zwei Drittel der globalen Verkehrsemissionen verantwortlich. Sie müssten beim nachhaltigen Umbau des Verkehrssektors vorangehen und Länder wie Indien und Indonesien, wo sich die Gesamtverkehrsemissionen seit 1990 mehr als verdreifacht haben, mitnehmen, so der Bericht. Das bedeute bei wachsender Bevölkerung und zunehmender Motorisierung nicht nur die Umstellung auf elektrische Antriebe, sondern auch Unterstützung der Energiewende hin zu Strom aus erneuerbaren Quellen.

Anderer Weg für Afrika

Afrikanische Länder haben nach Einschätzung von GIZ und Agora die Chance, aus den Fehlern anderer Schwellenländer zu lernen. Wind- und Solarenergie sind auf dem Kontinent ausreichend verfügbar, dank Rohstoffen und Digitalisierung die Umstellung auf klimaneutrale Elektromobilität theoretisch schnell möglich. Vielerorts bestehen bereits Busangebote, die elektrifiziert, weiterentwickelt und zu digitalen Mobilitätsplattformen ausgebaut werden könnten. Damit ließen sich die Auswirkungen des rasant wachsenden afrikanischen Verkehrssektors auf das globale Klima gering halten.

Weg vom Gas, rauf aufs Pedal

Profiteur der Verkehrswende ist definitiv die Bikebranche: Insgesamt wurden im Jahr 2021 weltweit etwa 257 Millionen Fahrräder verkauft – etwas weniger als beim Corona-Boom 2020, aber immer noch auf einem höheren Niveau als in den Vorjahren. Der größte Anteil der verkauften Fahrräder entfällt dabei auf Asien, alleine in China waren es etwa 98 Millionen. In Europa wurden 32 Millionen Bikes verkauft, die meisten in Deutschland und Frankreich. Nordamerika folgt mit ca. 23 Millionen Stück. Laut Prognosen soll der globale Absatz bis zum Jahr 2027 auf über 300 Millionen Räder steigen.

Natürlich hat die Verkehrswende, vor allem in europäischen Großstädten, viel mit der Änderung von ganz persönlichen Verhaltensmustern der Menschen zu tun. Alternativen zum Auto müssen günstig, attraktiv und einfach zu arrangieren sein sowie nach Möglichkeit noch weitere Mehrwerte bieten – wie Gesundheit oder Sicherheit. Die Voraussetzungen dafür müssen in der Politik geschaffen, die Angebote entsprechend gefördert werden. Denn: Sind gute Radwege vorhanden, werden sie nachweislich auch genutzt. Dass die Mehrheit der Menschen zu einem modernen, sportlichen Active Lifestyle bereit sind, beweisen nicht nur die Absatzzahlen. Mobilitätsexperte Stefan Carsten bringt es in einem Interview mit dem Manager Magazin auf den Punkt: „Wissensbasierte Gesellschaften setzen bei der Stadt, Raum- und Verkehrspolitik auf ÖPNV, das Fahrrad und das Laufen. Überall in Europa fördern Regierungen und Kommunen diese drei Mobilitätsformen und bauen sie aus. Dies geschieht auch in Ländern mit einer ausgeprägten Automobilkultur – zum Beispiel Frankreich, Italien, Großbritannien oder Spanien. Das heißt, die Prinzipien des Wirtschaftens und des Zusammenlebens haben sich geändert und werden sich künftig noch viel stärker ändern.“

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