Der Gang zum Orthopäden fällt leicht, der Gang zur Psychologin schwer. „Es ist bis zu einem gewissen Grad bedenklich, daß die psychologische Betreuung und Vorbereitung der Sportler, die an der ,schönsten Nebensache der Welt‘ teilnehmen, notwendig geworden ist“, schreibt Skifahrer Franz Vogler im Buch „Psychologisches Wettkampftraining“ von 1973. Über 30 Jahre später machte der Skispringer Sven Hannawald sein Burnout-Syndrom öffentlich – viel Verständnis für seine Situation bekam er damals nicht. In den vergangenen Jahren hatten zwar immer mehr Sportler und Sportlerinnen den Mut, über ihre psychischen Probleme zu sprechen, zuletzt Simone Biles, Naomi Osaka oder Nyjah Huston aber die Reaktionen waren ebenfalls unterschiedlich. Auch Felix Magath äußerte kürzlich in einem Interview, dass er kurz vor einem Burnout stand.
Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) definiert Mental Health so: Psychische Gesundheit (auch seelische, geistige, oder mentale Gesundheit; englisch Mental Health) ist ein Zustand des Wohlbefindens, in dem eine Person ihre Fähigkeiten ausschöpfen, die normalen Lebensbelastungen bewältigen, produktiv arbeiten und einen Beitrag zu ihrer Gemeinschaft leisten kann.
„Ich freue mich für jeden, der mit einem Burnout nichts anfangen kann“, sagt Sven Hannawald zu den Reaktionen – gestern wie heute. Auch wenn es seinen Worten nach immer noch genügend Sportler*innen gebe, die sich mit einer angekündigten Auszeit über ihren Zustand hinwegretten würden. Oder deren Agenturen den Schein wahren wollen, damit die Karriere keinen Kratzer bekomme. „Ich freue mich aber auch für alle, die es öffentlich machen“, und so eine Chance hätten, ihren Alltag zu regeln. Für ihn sei es damals zu spät gewesen, um wieder in den Leistungssport zurückzukehren – „es war vorbei“.
Mittlerweile ist das Burnout-Syndrom weitestgehend in der Gesellschaft angekommen und auch akzeptiert. Das führt Dr. Tatjana Reichhart, Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie, darauf zurück, dass in unserer Leistungsgesellschaft der Zustand des Ausgebranntseins „total anerkannt ist“. Dahingegen sei die Diagnose Depression nach wie vor „stigmatisiert“. Die Reaktion sei oft: Derjenige habe den Druck nicht ausgehalten. Dies gelte für die Sports- ebenso wie für die Arbeitswelt.
Wichtig sei, zu unterscheiden, in welchem Stadium sich die/der Betroffene befinde. Beim Burnout würde diese/r auf die Frage, was er/sie gerne machen würde, wenn er/sie wieder alle Energie zurückbekommen würde, mit Ideen antworten. Bei einer Depression wäre die Freudlosigkeit im Vordergrund und daher würde keine Antwort kommen.
Wie schwer es für Sportlerinnen und Sportler ist, sich um ihre mentale Gesundheit zu kümmern, zeigt auch das Beispiel des Kletterers Alexander Huber von den Huberbuam. Er hat seine Krankheit besiegt, und über das Thema Angst sowie seine Angststörung 2013 das Buch „Die Angst, dein bester Freund“ geschrieben.
Gefühlt steigen die Zahlen von Spitzensportler*innen und auch Sportmanager*innen, die aufgrund psychischer Probleme ihre Karriere beenden. Allerdings besagt eine Studie zur Häufigkeit psychischer Erkrankungen im Spitzensport, dass für die beiden häufigsten Erkrankungen – Angststörungen und Depressionen – Spitzensportler*innen ein Erkrankungsrisiko hätten, das mit dem vom Rest der Bevölkerung weitgehend vergleichbar sei. Zu diesem Ergebnis kommt ein australisches Forscherteam im Jahr 2016, das dafür rund 60 Studien ausgewertet hat. Da Burnout keine eigenständige Krankheit ist, fehlen absolute Zahlen. Die Ärztezeitung schrieb allerdings 2014, dass jede*r 10. Spitzensportler*in von Burnout betroffen sei.
Für den ehemaligen Bundestrainer Olaf Kortmann ist der Dreh-und Angelpunkt die Frage: „Gestatte ich mir sportpsychologische Betreuung anzunehmen?“ Denn beim mentalen Training gehe es darum, „die bestmögliche Leistung abzurufen und nicht unbedingt zu siegen“. Kortmann weiß wovon er spricht. Als Vereins- und Bundestrainer im Volleyball und später Beachvolleyball haben seine Teams zahlreiche nationale und internationale Titel gewonnen. Ein besonderer Schwerpunkt seiner Arbeit ist das mentale Coaching von Profiteams und Spitzensportler*innen. Dabei sei es wichtig, in Gedanken handlungsorientiert, und nicht zielorientiert oder ergebnisorientiert zu arbeiten. Also beispielsweise nicht den Gewinn einer Medaille als Ziel auszugeben, sondern sich im Hier und Jetzt auf die Technik zu konzentrieren. „Was Erfolg ist, das kann jeder für sich selbst bestimmen. Das reduziert den Wettkampfstress enorm“, so Kortmann.
„Sich einzugestehen, dass es sein kann, dass es nicht mehr so weitergeht“ – das ist für Sven Hannawald ein erster Schritt. Wichtig sei auch: Ein Bewusstsein für den eigenen Körper zu entwickeln, Stress wahrzunehmen, sich Pausen zu gönnen und auf die Balance zu achten. „Auf die eigene Stimme hören.“ Das alles könne einer Überlastung entgegenwirken.
Allerdings seien die Existenzängste, die manch eine*n zu noch mehr körperlichem Training anstachele, nicht zu unterschätzen. Ebenso der Einfluss von Social Media. „Früher saßen wir auf dem Weg zum nächsten Wettkampf im Bus, und haben aus dem Fenster geschaut oder mal die Augen zugemacht.“ Heute würden viele sich mit dem Handy beschäftigen, und über den nächsten Social-Media-Post nachdenken. „Das ist ständiger Alarm für die Birne“ und sei keine geistige Pause.
Was der ehemalige Spitzensportler gut findet: Mittlerweile seien auch die Trainer*innen weiter im Erkennen, wie es dem/der jeweiligen Sportler*in gehe.
Und Beispiele wie Max Eberl, Naomi Osaka und Simone Biles „machen alle wacher, dass es jeden treffen kann“. Er wisse, wovon er rede, er habe auch lernen müssen, Pausen zu machen. Jetzt kennzeichne er Auszeiten mit einem „dicken, roten X im Kalender“, die er eventuell hin und her schieben muss, aber nicht mehr überschreibt.
Mentales Training funktioniert auf verschiedenen Ebenen, und ist nach Worten von Olaf Kortmann „wie ein bunter Blumenstrauß“. Allerdings müsse es sehr individuell abgestimmt werden. Deshalb sei es auch immer schwer, komplette Mannschaften mental zu unterstützen. Oder wie es Sven Hannawald ausdrückt: „Jeder hat seinen eigenen Rucksack.“
Entspannungstechniken wie Autogenes Training oder Progressive Relaxation helfen, in den Ruhephasen den Geist zu beruhigen, aber auch, sich in der Leistungssituation besser konzentrieren zu können. Yoga sorgt zum einen über die Atmung und zum anderen über die fließenden Bewegungen für innere und äußere Balance. Patrick Broome, Yogalehrer der Fußball-Nationalmannschaft, sagte in einem Interview: „Yoga hilft, sich selbst zu spüren, Körpergefühl zu entwickeln und besser zu schlafen. Die Regeneration ist der Faktor, von dem man weiß, dass man noch am meisten herausholen kann. Wer sich schnell erholt, kann schnell wieder Höchstleistung bringen.“
Neben den Entspannungstechniken gibt es diverse Mentale Trainingstechniken wie das Ideomotorische Training (sich beispielsweise die Fahrt durch den Eiskanal vorzustellen) oder das Prognosetraining (unter anderem Stärkung des Bewusstseins und realistische Selbsteinschätzung). Sie stärken sowohl die kognitiven als auch die emotionalen Fähigkeiten der Sportler*innen. Aber ohne sportpsychologische Betreuung sei das Training schwierig, meint Kortmann. Was aber jede*r gut leisten könne: Die Anpassungsfähigkeit gegenüber Problemen (Resilienz) zu üben, erklärt Dr. Reichhart, Autorin des Buches „Das Prinzip Selbstfürsorge“. Dazu gehört beispielsweise sich zu überlegen, wie man Achtsamkeit im Alltag praktizieren könne.
Wie wichtig zudem der Atem für die Leistungsfähigkeit sei, betont Yoga-Trainerin Sarah Mahr, und verweist auf das erst kürzlich erschienene Buch „Breath – Atem: Neues Wissen über die vergessene Kunst des Atmens“ von James Nestor.
Dr. Reichhart ist sich sicher: Spitzensportler*innen hätten es leichter auf psychologische Betreuung zurückzugreifen. „Für Profis ist Sport der Job, den sie ausüben. Dahingegen gehen Freizeitsportler*innen neben ihrem Hobby auch immer noch einem Beruf nach. Die Zeit, die sie für ihre mentale Gesundheit aufwenden können, ist dementsprechend minimierter.“ Ein großer Vorteil sei auch, „dass die Sinnhaftigkeit und Bedeutsamkeit für Sportler absolut gegeben ist“. Dahingegen müsse ein Mitarbeiter in einer Firma sicher öfter „Sachen machen“, die für ihn keinen Sinn hätten.
Einen weiteren Vorteil nennt Sven Hannawald: „Die meisten bewegen sich viel.“ Im Gegensatz zu vielen Mitarbeiter*innen – Beruf bedeutet nach seinen Worten oft wenig Bewegung. Trotzdem müssten auch Freizeitsportler aufpassen, dass sie ihr Training dosieren und entspannte Einheiten einlegen, und vor allem Pausen einplanen.
Wie bei nahezu allem heißt es aber auch hier: Find the balance! Übertraining und zu viel Leistungsdruck strapazieren zwar die mentale Gesundheit, doch in der richtigen Dosis kann regelmäßige Bewegung auch ein Wundermittel für Mental Health sein. 15,09 Minuten täglich reichen bereits, um das seelische Wohlbefinden zu stärken, so eine von der Agentur Golin entwickelte Studie.
Bei dieser setzte Asics seine "Mind Uplifter"-Technologie ein, um die Auswirkungen von Bewegung auf das Gehirn zu messen und brachte tausende Sportler*innen, unter anderem der olympische Sprinter Iwan Thomas, 7 Tage lang auf Sport zu verzichten.
Wie es den Probanden danach ging? Vermindertes Selbstvertrauen, mentale Energie und Stressresistenz. Kurz gesagt: Es ging ihnen deutlich schlechter.
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