Mein Name ist Martin Seibold und ich bin seit über 20 Jahren Teil der Fitnessbranche: in leitenden Positionen in Deutschland, den Beneluxstaaten, Asien und Australien. Unter anderem habe ich die Neupositionierung der Premium Marke Fitness First in Deutschland und Großbritannien geleitet.
Seit 2019 bin ich CEO der LifeFitGroup – einer der führenden Gesundheits- und Fitnessplattformen in Deutschland. In den letzten zwei Jahren habe ich innerhalb dieser Gruppe eine Multi-Marken-Organisation aufgebaut, indem ich die Rechte an führenden Fitnessmarken mit unterschiedlichsten Konzepten erwarb: wie Barry`s, Club Pilates, Pure Barre sowie den traditionellen Fitnessstudio-Modellen Smile X, Elbgym und Fitness First.
Ich sehe Fitness als Teil der Lösung gegen Covid-19 und fordere Systemrelevanz für die Fitnessbranche. Dafür kämpfe ich im Verbund mit anderen Marken an oberster Stelle. Über meine größten aktuellen Herausforderungen, die der Branche sowie deren Chancen erzähle ich in meinem Artikel.
An erster Stelle stehen für mich unsere Mitarbeiter: Es gilt, sie in ihrer jetzigen Situation aufzufangen. Sie haben 14 Monate Pandemie hinter sich. Das macht was mit einem. Ich vergleiche das bildlich gerne mit einem Flugzeug: Der Mensch hat einen privaten und einen beruflichen Flügel, den Kopf-Piloten und seinen Körper. Bei vielen Menschen ist auf dem beruflichen Flügel pandemiebedingt einiges durcheinandergekommen: sei es durch Homeoffice, Jobverlust oder Kurzarbeit.
Hinzu kommt der private Bereich, der mit Kontaktbeschränkungen, fehlenden Ausgleichsmöglichkeiten und mitunter Kinderbetreuung und Home-Schooling zurechtkommen musste. Auch dieser Flügel hat gelitten. Im Schnitt hat der Deutsche 5,5 Kilo pro Kopf zugenommen. Die Pandemie war/ist anstrengend. Das muss man als Mensch - oder eben als Pilot - erstmal ausbalancieren.
In unserer Branche sowie in unserem Geschäftsmodell ist der Mitarbeiter das Entscheidende: Gute Mitarbeiter machen unseren Club aus – ohne sie ist jedes noch so perfekt ausgestattete Studio chancenlos. Deshalb liegt auch mein persönlicher Fokus bei unseren Mitarbeitern: sie abzuholen, offen mit ihnen zu kommunizieren und auch ihre persönlichen Herausforderungen während der Pandemie im Auge zu behalten.
Wir hatten 1.500 von 2.000 Menschen in Kurzarbeit, viele haben zehn, elf Monate lang gar nicht gearbeitet. Sie müssen sich wieder neu auf den Arbeitsalltag einlassen. Im gesamten Prozess ist eine sehr offene, transparente, direkte und ehrliche Kommunikation von hoher Bedeutung. Das sagt sich so leicht – aber: „The proof is in the pudding“, wie man im Englischen sagt.
Wir haben eine starke Call-Kultur, teilweise sind über 1.000 Mitarbeiter gleichzeitig in digitalen Meetings und bekommen wichtige Informationen direkt von mir oder dem jeweiligen Geschäftsführer. Während der Pandemie haben wir so immer sehr offen den genauen Stand der Firma kommuniziert – inklusive unserer Finanzlage.
Wir stehen im engen Austausch zu Fitness First in Asien und Australien (ehemals eine Gruppe). Als dort neue Corona-Wellen ausbrachen, haben wir in Deutschland unser Core-Team rechtzeitig definiert: bereit, es zu verteidigen, solange wir müssen. Uns war klar, dass wir nochmal schließen. Dass es sieben Monate werden würden, das wussten wir nicht.
750 von 2.000 Mitarbeitern haben das Unternehmen verlassen. Einige haben die Branche gewechselt, andere können sich mit dem neu eingeschlagenen Weg nicht richtig identifizieren. Auch das sehe ich als sehr wichtig in so einer Situation: ehrlich und zügig Klarheit schaffen. Das verbleibende Team haben wir neu aufgestellt, genauso wie Prozesse und Abläufe.
Die Lockdown-Zeit haben wir intensiv für die Aus- und Weiterbildung unserer Mitarbeiter genutzt. Heute gibt es bei uns keinen reinen Verkäufer oder Empfangsmitarbeiter mehr, sondern den Clubmitarbeiter mit Fitness-Ausbildung, der einen Trainingsplan erstellen und das Mitglied bei allen weiteren Abläufen im Club unterstützen kann. Wir haben so ein noch nie dagewesenes, hochqualifiziertes und breit aufgestelltes Team kreiert. Ich sehe darin auch eine große Chance.
Unsere Branche ist Abo-getrieben und durch die späte Öffnung der Studios 2021 haben wir über lange Zeit die Chance verloren, Neukunden zu gewinnen. Vor Corona hatten wir 220.000 Kunden. Jetzt sind es insgesamt rund 70.000 Mitglieder weniger. Damit verlieren wir bei einem monatlichen Durchschnittsbeitrag von 50 Euro 3,5 Millionen Euro im Monat und über 40 Millionen Euro Einnahmen im Jahr.
Die staatlichen Notprogramme sind hilfreich – allerdings nur für die Schließungsmonate. Und bis wir wieder auf dem Einnahmenlevel vor der Pandemie sind, vergehen zwei bis drei Jahre. Das ist eine große Herausforderung. Die Politik muss verstehen, dass es in Abo-getriebenen Branchen wie Golfclubs, Vereinen und Fitnessstudios auch zukünftig Hilfen geben muss. Wir brauchen eine Lösung, um den Umsatzausfall in den nächsten Jahren auszugleichen.
Unverständlicherweise wird die Fitness-Branche nicht als systemrelevant eingestuft. Dabei ist Bewegung und ein gestärktes Immunsystem genau jetzt so wichtig: gerade für Menschen mit gesundheitlichen Problemen. Und die machen für uns als Fitness- und Gesundheitsstudio-Betreiber 25 Prozent unserer Kunden aus. Können sie nicht zu uns kommen, ist das ein Problem.
Fitness und Gesundheit muss in der gesellschaftlichen Hierarchie schnell nach oben rutschen. Auch im Hinblick auf eine eventuelle neue Welle in der Pandemie. Wenn ein Supermarkt geöffnet ist, kann das auch ein Fitness-Studio. Studien, wie beispielsweise die von uns unterstützte SafeActive Studie, belegen: Die Ansteckungsgefahr in Studios ist so viel niedriger als in Supermärkten oder in öffentlichen Verkehrsmitteln, in denen Maske getragen wird. Die Hygienemaßnahmen sind in Studios sehr viel höher – und der langfristige Schaden für die Gesellschaft, wenn Leute millionenfach nicht trainieren können, ist es auch. Der Sektor Fitness ist mit 11 Millionen Mitgliedern vor Fußball der größte Sport Deutschlands.
Sind die Inzidenzwerte hoch, können auch Masken in Studios getragen werden. Weil es nicht darum geht, High-Intensity-Sport zu treiben, sondern um Kräftigung und Stärkung für den Alltag. Es ist selbstverständlich, dass wir uns als Branche an die aktuellen Gegebenheiten anpassen.
Seitdem alle unsere Clubs seit Juni wieder geöffnet sind, ist die Situation deutlich entspannter, aber weit entfernt von normal. Und wir wissen nicht, was demnächst kommt. Wir sehen in jedem Fall einen deutlichen Nachholeffekt: Verglichen mit 2019 zur selben Zeit schreiben wir 160 Prozent mehr Neuverträge. Angepasst an die Corona-Situation wünschen sich die Kunden kürzere Vertragslaufzeiten – auch das bieten wir.
Unsere Branche kannte die letzten 15 Jahre vor Corona nur eines: Wachstum! Und der Markt hat viel Potential: Deutschland befindet sich aktuell noch im Fitness-Niemandsland: Nur 13-14 Prozent der erwachsenen Bevölkerung sind im Fitness Studio angemeldet. Im Vergleich: In Skandinavien sind es 22-24 Prozent, in Kalifornien sogar 30 Prozent. Wir prognostizieren eine Verdopplung innerhalb der kommenden zehn Jahre auf 20-23 Millionen Trainierende.
Es gibt zahlreiche positive Trends für die Branche, die sich durch Corona noch verstärkt haben: Ein Schub ist das gesteigerte Gesundheitsbewusstsein. Früher waren wir in Punkto Gesundheit eine „Vermeider-Gesellschaft“ – wir haben etwas weggelassen, weil es nicht gesund ist. Heute tun wir proaktiv etwas Positives für die Gesundheit – umso mehr durch Corona. Corona hat außerdem das Homeoffice etabliert. Das heißt, der Mensch hat noch mehr Zeit für Fitness – durch den Wegfall von langen Anfahrtswegen zur Arbeit.
Und Home Fitness explodiert! Im letzten Jahr allein wurden 75.000 Fitness- und Gesundheitsapps in der Welt gelauncht. Wahnsinn! Dieses Wachstum hilft der gesamten Branche – auch den Studios. Denn der Mensch ist ein Rudeltier, dem ohne soziale Komponente schnell monoton wird, was er zu Hause allein macht.
Zudem differenzieren sich Produkte weiter aus, und der Kunde wählt, was ihm gefällt. Das haben wir glücklicherweise bereits vor Corona erkannt: Vor zwei Jahren hatten wir ausschließlich die Premium Studios der Marke Fitness First. Heute vertritt die LifeFit Group sieben verschiedene Marken; darunter Studios für Menschen, die besonders im High-Intensity-Bereich trainieren wollen, Yoga- und Pilates Konzepte und sogar eins nur für „Gym-Haters“.
Mit positiven Erfolgen: In unserem Studio The Gym Society, haben wir in den letzten 10 Monaten nur 3 Prozent unserer Mitglieder verloren. Der Branchenschnitt liegt dagegen bei 27 Prozent.
Wir liefern auch breit aufgestellt nach Hause: mit Home-Fitness-Videos, Live-Classes, Personal-Trainings und Trainingsplänen, die sich über unsere Fitness First App erstellen lassen. Auch das digitale Angebot ist durch Corona in der ganzen Branche akzeleriert worden. Geld hat damit allerdings noch keiner verdient.
Wir haben uns auf die Fahne geschrieben, Menschen zum Trainieren zu motivieren. Und entgegen landläufiger Meinung ist dabei das größte Problem der Branche: angemeldete, nicht trainierende Mitglieder. Weil: Ein Kunde, der trainiert, ist zufrieden und bleibt den Studios langfristig treu. Unsere Studios legen deshalb alles darauf aus, dass der Kunde wiederkommt. Als Jahres-Mittel gilt, dass ca. 25-30 Prozent der Kunden das Studio in den letzten drei Monaten nicht besucht haben. Wir konnten diese Zahl bereits auf 15-20 Prozent reduzieren, Ziel sind 10 Prozent.
In unserer Branche trainieren auch nur 20 Prozent der Mitarbeiter selbst im Studio. Das wollen wir nicht, denn der Mitarbeiter sollte wissen, wovon er spricht: Bei uns trainieren stolze 92 Prozent - die letzten 8 Prozent wollen wir natürlich auch noch kriegen.
Wir sind Premium und unser Ziel ist es immer, Best in Class nach Marktsegment zu sein. Und wir wollen weiterwachsen: Aktuell haben wir 90 Studios, in 5 Jahren möchten wir bei 250-300 eigenen oder Franchise-Studios sein.
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