Zu den Lektionen aus dem Ultratrail Running:
Mentale Stärke ist ein Schlüsselfaktor, um Krisen ressourcenschonend zu meistern – beim Ultratrail wie in Unternehmen. Die spannende Frage lautet also: Kannst du mentale Stärke trainieren? Beim Ultratrail laufen kann ich das sehr gut. Sicherlich reicht dafür bereits ein Marathon oder das nötige Durchhaltevermögen bei anderen Sportarten. Unabhängig von der sportlichen Disziplin braucht es zum Erreichen anspruchsvoller Ziele die nötige Disziplin und diese lässt sich ganz einfach im Berufsalltag trainieren. Moment mal, eben habe ich noch über mentale Stärke gesprochen und nun geht es um Disziplin. Dabei verhält es sich mit der Disziplin wie mit dem FC Bayern oder Coronaregeln: Es gibt immer Fans und Gegner. Ich war früher kein Fan von Disziplin. Bis ich erkannte, dass es genauso diszipliniert sein kann, eine Tafel Schokolade zu essen, wie einen Salat.
Nachfolgend erfährst du, warum Disziplin für mentale Stärke so wichtig ist, wie Disziplin Spaß macht, wie sie sich (ohne zusätzlichen Zeitaufwand) im Alltag trainieren lässt, wie Disziplin und Selbstvertrauen zusammenhängen und was jeder für sich darüber hinaus tun kann, um aus ungewünschten, ungeplanten Situationen das Beste für sich und sein Umfeld herauszuholen.
Wie bereits geschrieben, war ich früher überhaupt kein Fan von Disziplin. Allein das Wort löste bei mir innere Rebellion aus. Ich hörte es oft, wenn überzeugende Argumente fehlten. Disziplin folgt Regeln und Regeln sind dann sinnvoll, wenn sie an das Ziel angepasst werden. Schau zukünftig genau hin, ob du Regeln begegnest, die sinnfrei alte Regeln schützen. Doch Achtung: Manchmal versteht man den Bezug zum Ziel nicht gleich. Gibt es ihn, kann Disziplin richtig Spaß machen. Es kann nämlich genauso diszipliniert sein, eine Tafel Schokolade zu essen wie einen Salat. Du kannst die Schokolade auch durch Pizza ersetzen, wenn du lieber deftig isst. Ob das diszipliniert ist, hängt von deinem Ziel ab. Mit Salat wäre ich beim Tor des Géants jedenfalls nicht weit gekommen. Das Foto anbei zeigt den Schlafsaal in der zweiten Life-Base in Cogne. Zum Glück gibt es noch keine Bilder mit Geruchsübertragung. Hier braucht es schon Disziplin sich hinzulegen, geschweige denn nach 45 Minuten wieder aufzustehen, rauszugehen in die kalte Nacht und weiterzulaufen.
Beim Ultratrail-Laufen lässt sich Disziplin sehr gut trainieren, sogar ohne zusätzlichen Zeitaufwand. Es ist ganz einfach: Du musst dich nur immer an deine Vorgaben halten. Doch ganz so einfach ist das nicht.
Kannst du abends, wenn du ins Bett gehst, mit gutem Gewissen sagen, dass du alles erledigt hast, was du dir für den Tag vorgenommen hast - und das jeden Tag?
Oft gelingt das nicht. Und zwar nicht, weil man undiszipliniert war, sondern, weil man sich mal wieder viel zu viel vorgenommen hat.
Um auf dem Weg zu deiner Vision Frust zu vermeiden, ist es wichtig, dass du dir neben einem großen, motivierenden Ziel auch kleine, smarte Etappenziele setzt. Deine Tages- und Wochenziele müssen im klassischen Sinn smart, also erreichbar sein. Dafür gibt es eine gute Technik: Die wichtigsten Tätigkeiten für den Tag oder die Woche markierst du mit einer eins. Prio 1 Aufgaben dürfen nicht liegen gelassen werden! Dann markiere die Prio 2 Aufgaben und setzt dir als Ziel 50 % davon zu erledigen. Prio 3 Aufgaben, werden erst erledigt, wenn nach Erholungspausen noch Zeit bleibt. Plane die Menge und den Umfang deiner Prio 1 und Prio 2 Aufgaben bewusst konservativ, denn es kann immer etwas Unerwartetes dazwischenkommen. Und dann halte dich konsequent an die Umsetzung, auch wenn es mal anstrengend wird. Denn wenn du dir immer mehr vornimmst als du unter realistischen Bedingungen schaffen kannst, lernt dein Unterbewusstsein, dass du dich nicht an deine eigenen Vorgaben hältst.
Das bringt mich direkt zum dritten Punkt: Wem vertraust du?
„Was braucht es, damit du jemanden vertraust?“, frage ich in Vorträgen oder Seminaren und bekomme neben dem Faktor „Zeit“ folgende Antworten: Loyalität, Verbindlichkeit, Zuverlässigkeit, Ehrlichkeit, Authentizität, das Vertrauen des anderen, Berechenbarkeit. Auch wenn Letzteres schon nicht mehr viel mit Vertrauen zu tun hat, zeigt sich, dass du mit dem oben genannten „dich an deine eigenen Vorgaben halten“ einen Großteil der eben genannte Eigenschaften erfüllst. Und während es für die Motivation wichtig ist eine attraktive Vision zu haben (meine Definition eines SMARTen Ziels), müssen Tages- und Teilziele im klassischen Sinn smart sein, also spezifisch, messbar, erreichbar, realistisch und terminiert (zeitgebunden).
Indem du das große Ziel, bei mir ein Zieleinlauf beim Tor des Géants, in viele kleine Etappen unterteilst, die du mit Disziplin und deiner Methode der Zeiteinteilung auch im belebten und gefüllten Arbeitsalltag erreichen und umsetzen kannst, gewinnst du Stück für Stück an Selbstvertrauen und kommst zugleich deinem Ziel stetig näher. Einen Ultratrail läuft man nicht über 100, 200 oder 300 Kilometer, sondern von Verpflegungsstation zu Verpflegungsstation von Checkpoint zu Checkpoint und in schwierigen Momenten zählt nur noch der nächste Schritt. Und dann noch einer und noch einer und noch einer. Je herausfordernder die Situation, desto kleiner müssen deine Teilziele sein, damit sie erreichbar bleiben.
Bonus-Punkt: Meistere unerwartete Veränderungen mit Disziplin, mentaler Stärke und Selbstvertrauen.
Immer wenn Dinge anders laufen als gewünscht oder geplant, erfordert das von uns ein Umdenken, ein sich Einstellen auf die neuen Bedingungen. Sozialwissenschaftler und Change Manager erklären das durchgängige Reaktionsmuster auf solche Veränderungen unter anderem über das bekannte Modell von Kübler-Ross. Das Modell stammt ursprünglich aus den Phasen der Trauerbewältigung. Der Tod eines nahestehenden Menschen ist sicherlich ein Extrembeispiel für eine unerwünschte Veränderung. Das Durchlaufen vergleichbarer Reaktionsmuster fanden Sozialwissenschaftler auch bei anderen Anpassungsprozessen. Ich nutze dieses Modell, um dir mittels meiner Erfahrungen am Berg und im Business, einen Weg aufzuzeigen, der es dir ermöglicht, ressourcenschonend von der ersten in die letzte Phase zu gelangen:
- Phase 1: Schock und Ablehnung
Als der Radiologe im Oktober 2020, ca. sieben Wochen nach einem als Muskelfaserriss deklarierten Unfall beim Wasserski, per Zufallsbefund einen Muskelabriss mit 7 cm Retraktion (Abstand zum Ansatz) feststellte, wollte ich es zunächst nicht wahrhaben. Mir blieb jedoch wenig Zeit, denn die Entscheidung, ob ich das operieren lassen möchte, musste in kürzester Zeit erfolgen. Normal wird so ein Muskelabriss innerhalb von maximal zwei Tagen operiert. Zum Glück hatte ich damals schon mein Ultra-SAFE-Konzept, über das ich 2018 einen TEDX-Vortrag gehalten habe.
- Phase 2: Zorn und Schuldzuweisung
Ich hätte nun den Orthopäden aufgrund der falschen Diagnose Schuld zuweisen können. Dann wären zwar ebenfalls bereits vier Wochen vergangen, aber keine sieben. Dabei bezieht sich „Schuld“ wie ich gelernt habe immer auf die Vergangenheit und die lässt sich sowieso nicht ändern. Verantwortung ist da deutlich besser. Der Arzt übernahm die Verantwortung, indem er die neue Diagnose überprüfte und mich sowie die Priorität dieser Verletzung an einen sehr guten und erfahrenen Chirurgen empfahl. Und natürlich trug ich ebenso Verantwortung. Ich hätte auch unmittelbar nach dem schmerzhaften Muskelkrampf beim ersten Schritt auf dem Wasserskisteg vor Ort zum Arzt gehen oder heimfahren können. Die Option eines Muskelabrisses am Oberschenkel kannte ich jedoch nicht, und dass obgleich ich u.a. ausgebildete Physiotherapeutin bin. So brauchte ich auch nicht sauer auf mich zu sein.
- Phase 3: Verhandeln
Ich holte drei Meinungen von Experten ein und bekam drei Antworten: Unbedingt sofort operieren, gegenüber der Überzeugung, dass es für eine OP viel zu spät sei. Ich war zu diesem Zeitpunkt in der Lage im flachen Gelände zu gehen. Rennen oder Höhenunterschiede überwinden gelang mir nicht. Dr. Björn Drews, heute Chefarzt der Chirurgie im Sankt Vinzenz Krankenhaus in Pfronten, gab mir eine ehrliche 50-50-Einschätzung. Es war ähnlich einer Verhandlung, wenn auch meine Entscheidung. „Was würden Sie ihrer Frau raten?“, fragte ich ihn. „Der würde ich sagen, sie soll ihre sportlichen Ambitionen zurückstecken und nicht operieren“, so seine Antwort mit dem Zusatz „aber das kann ich Ihnen ja nicht raten.“
- Phase 4: Depression
Zugegeben, ich war mir der Tragweite der Nachbehandlung wie die Entlastung mit max. 100 Grad Hüftbeugung (also keine normale Sitzposition, weder beim Essen noch auf Toilette) für über 6 Wochen und dem sehr langen Weg zurück nicht bewusst. So war ich mit meiner Entscheidung zur Operation glücklich und sah vorwiegend die Chance wieder Berge rauf und runter laufen zu können.
- Phase 5: Akzeptanz
In diesem Fall leisteten weder mein Verstand noch mein Unterbewusstsein größeren Widerstand. Weil mir klar war, dass Zeit, wie beim Ultratrail Rennen, über Erfolg oder Misserfolg entscheiden werden. Dass der Abriss, wie der plötzliche Wintereinbruch Anfang September beim Tor des Géants, unveränderbar ist. Als ich 2019 ab der Hälfte dieses Rennens mit einem geschwollenen und sehr schmerzhaften Knie zu kämpfen hatte, war das anders. Rückblickend habe ich dadurch sehr viel Zeit und Energie vergeudet. Zwar gelang es mir am Ende in 147 Stunden (nonstop) mit insgesamt viereinhalb Stunden Schlaf das Ziel zu erreichen. Für die Qualifikation zum Tor des Glaciers, also einem Finish in unter 130 Stunden, hat es damals allergings nicht gereicht. Als ich mich nach meinen Muskelabriss zwei Jahre lang zurück auf Ultratrail Niveau gearbeitet habe - als Nicht-Profi mit diversen anderen Verpflichtungen, drei Schritten vor und zwei zurück, manchmal auch umgekehrt – hat mir die oben genannte Disziplin sowie die trainierte mentale Stärke maßgeblich geholfen.
2023 dann die erneute Anmeldung für den TOR, mit der Frage: Wie schaffe ich es siebzehn Stunden schneller zu sein? Bei dem bereits wenigen Schlaf von 2019 und mit schlechteren muskulären Voraussetzungen als nach einem optimalen Training mit zwei gesunden Beinen?
Die Antwort: Ich muss es schaffen bei unerwarteten Ereignissen ohne Zeit- und Kraftverlust in Phase 4 (Akzeptanz) anzukommen, mich nicht aus dem Konzept bringen zu lassen, mich, wenn nötig kurz neu zu orientieren und alles, was ich nicht ändern kann, so anzunehmen wie es ist, um dann das Beste daraus zu machen. Ein Gewitter am Pass, Hagel auf freiem Feld, Trails, die zu Sturzbächen wurden, Dauerregen mit Erdrutsch, ein abgebrochener Stock und dann kam die Kälte. Ich hatte Gelegenheit zu üben. 127 Stunden 32 Minuten und 35 Sekunden lang – bis zum Ziel.
Mehr zu Annabel Müller:
Mein sportlicher Kontext ist das Ultratrail Laufen. Bei diesem Ausdauersport läuft man Strecken von über 100 Kilometern, größtenteils abseits befestigter Wege. Ich laufe am liebsten in den Bergen. Mein längstes Rennen: 349 km und 30.879 hm in maximal 150 Stunden. Das sind die Zahlen, die der Veranstalter für 2021 im Timetable angab, das Jahr, indem ich mein Buch beim egoth Verlag über dieses außergewöhnliche Ultratrail Rennen geschrieben habe. Im Gegensatz zur Strecke variieren die Kilometerangaben von Jahr zu Jahr. So auch die Herausforderungen, denn im Gegensatz zur Route, lassen sich Umwelteinflüsse und das Wetter weder hundertprozentig planen noch beeinflussen. Und so wie die Begriffe VUKA oder BANI unsere volatile, unsichere, komplexe und mehrdeutige Welt beschreiben, gibt es auch bei Ultratrail Rennen immer größere Abweichungen vom Normalen und unerwartete Extreme. Bei einem Rennen wie dem Tor des Geánts, von Insidern als „der TOR“ bezeichnet, treffen einzelne Ereignisse nur jene, die sich z.B. zufällig bei Gewitter auf der Passhöhe befinden. Manche Herausforderung, wie ein extremer Kälteeinbruch Anfang September, ist für alle gleich. Auch das lässt sich gut auf das Leben und das Business übertragen. Dabei sind Menschen unterschiedlich geprägt und resilient, so dass diese Einflüsse von jedem anders wahrgenommen werden. Und während manch einer an einer solchen Herausforderung wächst, kann sie beim Nächsten zu Resignation, Wut, Ohnmacht und wenig zielführenden Gedanken wie Verhalten führen.
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