Unsere Kauflust oder -unlust ist ein wichtiger Schlüssel, wenn es darum geht, die Wirtschaft wieder anzukurbeln. Gleichzeitig führt die Corona-Pandemie dazu, dass wir vorsichtiger und weniger shoppen. Handelsexperte Boris Hedde ist seit 2009 Geschäftsführer beim Institut für Handelsforschung (IFH) Köln. Er beschäftigt sich in der Coronakrise intensiv mit Konsumverhalten, deckt schonungslos Fehlannahmen des Handels auf und sagt: „Unsere Kundendaten werden im stationären Handel viel wichtiger werden.“ ISPO.com erklärt er, was unsere Kaufgewohnheiten in Zukunft bestimmen wird und wie auch Sport- und Outdoorhändler ihre Kunden am besten binden können.
ISPO.com: Das Thema Solidarität ist in der aktuellen Coronakrise sehr präsent. Sie haben sich mit lokalen Marktplätzen wie etwa #kauflokal beschäftigt, die in dieser Zeit ein ungeahntes Comeback erlebt haben. Das Motiv: Solidarität der Verbraucher mit den lokalen Händlern. Wie solidarisch sind wir Konsumenten tatsächlich?
Boris Hedde: Die lokalen Onlinemarktplätze entstanden in der Hoffnung, sich in der Not gegenseitig zu helfen. Der Wunsch zu helfen war auch tatsächlich überall spürbar. Über 60 dieser Marktplätze gibt es inzwischen allein in Deutschland. Also haben wir untersucht, wie viele Konsumenten nutzen das Angebot? Das Ergebnis: zwölf Prozent – vor allem junge Konsumenten. Ist das nun viel oder wenig? Wir sind der Ansicht, dass es nicht viel ist, wenn man bedenkt, dass das Angebot gerade auch für die Zielgruppen, die von Corona besonders gefährdet sind, interessant gewesen wäre. Diese aber haben es offenbar nicht genutzt. Das heißt zusammengefasst: Als Konsumenten wollen wir zwar gerne helfen, haben es in der Mehrheit aber eher nicht getan.
Warum hat es mit der Hilfe nicht geklappt? Was verrät uns das über unser Konsumverhalten?
Bei den regionalen Onlinemarktplätzen lag der Fokus auf der reinen Produktverfügbarkeit. Ich glaube aber, als Konsumenten haben wir nicht das Problem, Produkte zu bekommen. Auf der Ebene der Produktverfügbarkeit ist Amazon nicht zu schlagen. Wenn wir schauen, wie stark Amazon und Amazon Prime inzwischen sind, wird deutlich, dass wir immer mehr Scheuklappen-Konsumenten haben, die gar nicht mehr nach alternativen Lieferanten suchen.
Lokale Marktplätze existieren ja schon länger. Die Idee war, dass der regionale Handel am Onlinehandel partizipieren sollte. Aber das funktionierte schon vor der Coronakrise nicht, weil wir als Kunden beim lokalen Händler nicht online kaufen wollen, da fehlt die Auswahl. Das Konzept war eher von der Seite des Händlers entwickelt worden und nicht aus der Perspektive des Konsumenten. Als solcher haben wir andere Interessen.
Welche sind das?
Ich glaube, in der Weiterentwicklung von Lokalität stecken noch gute Chancen. Die Frage ist, welche Mehrwerte kann der Handel lokal ausspielen? Als Kunde will ich in die Stadt, aber der Zugang dazu muss erleichtert werden. Hier in Köln experimentiert der Handel gerade mit lokalen Treuesystemen, wobei es nicht um Rabatte geht, sondern um lokale Charity-Projekte für Kindergärten oder Baumpflanzaktionen. Der Mehrwert: Wir identifizieren uns stärker mit dem Standort, und das kann gerade jetzt eine neue Chance sein. Wenn wir jetzt alle konditioniert werden, Abstand zu halten, wird das Bedürfnis nach sozialer Teilhabe mittelfristig wachsen.
Wie sollen sich beispielsweise die Sport- und Outdoorhändler in den Städten auf die neuen Bedingungen einstellen?
Die reine Produktfokussierung des Handels ist überholt, wir brauchen eine neue Perspektive mit mehr Nähe zum Kunden. Was heißt denn echte Kundenzentrierung? Der Handel muss sich davon verabschieden, dass es nur um die richtige Auswahl der Sortimente geht, sondern darum, den Abverkauf mit emotionalen Elementen zu verbinden. Das ist das eine. Das andere: Man muss unsere Customer Journey richtig verstehen lernen, die Kette ist lang: Vom Onlinekanal über Schaufenster bis zum Store. Unsere Kundendaten werden im stationären Handel viel wichtiger werden. Sie helfen, die gleiche Conversion-orientierte Denke aus dem Onlinehandel in den stationären Store zu transferieren. Warum gibt es im stationären Handel Kaufabbrüche? Diese Informationen zu erheben, ist im Onlinehandel gang und gäbe, im stationären Handel weiß man darüber sehr wenig. Die Frage lautet mehr denn je: Wie können Kennzahlen aus dem Onlinehandel in die stationäre Welt übertragen und genutzt werden?
Wie ticken die Konsumenten gerade? Wie verändert die Krise ihre Bedürfnisse?
Wir sehen eine kollektive Konsumzurückhaltung. Nicht nur während des Shutdowns, sondern auch danach. Fashion- und Textilhändler sind besonders betroffen. Die Konsumenten kommen zwar in die Innenstädte, aber nur sehr bedarfsgetrieben. Niemand kommt um sich inspirieren zu lassen. Aber es gibt auch Ausnahmen: Zum Beispiel gehen im Moment Balkonmöbel sehr gut. In allen Krisen sehen wir den Cocooning Effekt, wo die Menschen versuchen, es sich zu Hause schön zu machen. Oder den Lipstick Effekt, der besagt, dass Verbraucher in einer Wirtschaftskrise eher bereit sind, kostengünstigere Luxusgüter zu kaufen. Also anstelle von teuren Outfits kaufen sie einen teuren Lippenstift.
Es wird gerade viel geredet über die Chancen der Krise, darüber, dass die Menschen anfangen bewusster zu konsumieren, z.B. weniger Amazon, mehr Fachhandel, weniger Billigprodukte, mehr Qualität, mehr nachhaltige Produkte. Lässt sich das feststellen?
Wir werden da differenzieren müssen, wie sich die Krise weiterentwickelt. Früher lautete die Frage: Kaufe ich konventionell oder nachhaltig? Die neue Frage lautet im Moment eher: Kaufe ich überhaupt noch? Auch das wäre ja eine nachhaltige Position. Und was Amazon angeht: Wir haben da draußen sehr bequeme Kunden, und Bequemlichkeit aufzugeben ist das Schwierigste überhaupt.
Das heißt, die Krise fördert keinen Wertewandel unter den Verbrauchern?
Wenn Kaufkraft und Ausgabebereitschaft da sind, spielen Werte in Zukunft eine große Rolle. Aber auch im Bereich Nachhaltigkeit sind viele Entwicklungen nicht aus der Sicht der Konsumenten gedacht worden, beispielsweise die vielen Zertifizierungen, die nicht mehr Klarheit für die Kaufentscheidung bringen. Der Konsument hat immer gesagt, er will mehr Nachhaltigkeit, hat aber nicht so gekauft. Vielleicht wurde in die falsche Richtung gedacht. Nachhaltigkeit lief von Seiten der Hersteller und Händler immer unter der Prämisse, dass der Kunde ständig etwas Neues will. Das wurde nie infrage gestellt, war aber vielleicht falsch. Vielleicht will er lieber gar nicht konsumieren als immer neue nachhaltige Produkte zu kaufen.
In dem Zuge werden neue Modelle attraktiv, z.B. Re-Commerce, Upcycling usw. Nicht nur die Akzeptanz für Second-Hand steigt, sondern es gilt sogar als schick – unabhängig von der Kaufkraft. Ich bin gespannt, inwieweit Corona diese Konzepte beeinflusst. Auch ist zu prüfen, ob nicht Services, wie z.B. Lieferung, Verpackung etc. nachhaltig sein können. Das könnte ein neues Potenzial zur Ansprache von Kunden und Kundinnen darstellen.
Vieles wird davon abhängen, wie sich die kommenden Wochen entwickeln. Von welchen Szenarien gehen Sie aus?
Wir haben gerade ein Zukunftsszenario 2030 entwickelt und verschiedene Positionen durchkalkuliert. Je nach Entwicklung der wirtschaftlichen Rahmenbedingungen gehen wir von vier verschiedenen Szenarien aus: Im ersten werden wir wieder einen sehr stark funktionalen Retail bekommen, bei dem die Versorgung im Fokus steht und der Handelsformate wie Discounter begünstigt. Im zweiten Szenario sehen wir eine Convenience-Welt, die stark online getrieben ist, mit hoher Preisaffinität. Szenario drei nennen wir ‚Relax Retail‘. Hier geht es darum, online und offline verstärkt emotionale Aspekte mit einzubeziehen. Und final: ‚Lokal Retail‘. Hier liegt der Fokus auf Lokalität und Emotionalität – auch mit dem Bedürfnis nach stationären Touchpoints. Welches Szenario eintrifft, hängt davon ab, wie es konjunkturell weiter geht.
Inwieweit werden sich die Typologien der Konsumenten mit Corona verändern?
Typologien sind immer zeitpunktbezogen, und natürlich ändern sie sich gerade. Wir werden in Zukunft spezifische Corona-Typologien haben, die unterschiedlich adressiert werden können, beispielsweise im Hinblick auf die Themen Vereinsamung oder Gesundheit. Das heißt, wir werden neue Facetten integrieren.
Jede Krise hat neue Handelsformate hervorgebracht. Der Discountmarkt ist ein Phänomen der Nachkriegszeit. Ereignisse um Ökologie waren die Basis für nachhaltige Konzepte, bis hin zum Unverpacktladen. Ich bin überzeugt, dass nach der Krise die Beziehung zum Menschen eine neue Chance darstellen wird – auch für neue Handelsformate.
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