Was die Fahrrad-Industrie aus der Corona-Pandemie gelernt hat? „Ich denke, wir müssen uns künftig so aufstellen, dass wir noch flexibler und anpassungsfähiger auf Marktveränderungen reagieren können“, sagt Dennis Weijers von Shimano Europe. Das Jahr 2020 habe sehr gut angefangen – bis zum Shutdown. „Es gab viele Unwägbarkeiten und niemand wusste auf die Schnelle, wie man am besten darauf reagieren kann“, blickt Weijers zurück. Doch nach einer kurzen Schrecksekunde sei es bald wieder bergauf gegangen.
Das bestätigt auch Kevin Mayne, CEO des Industrieverbands Cycling Industry Europe. Wenn auch etwas vorsichtiger. Die brandneue Marktstudie von CIE zeichnet kein ganz einheitliches Bild. „Es scheint, als habe die Branche insgesamt einen großen Schritt vorwärts gemacht. Grundsätzlich ist die aktuelle Lage gut und – wenig überraschend – deutlich besser als noch im März“. Das gelte aber nicht für alle Bereiche, erklärt Kevin Mayne.
Am stärksten habe sich der Einzelhandel erholt, also diejenigen, die nah am Verbraucher sind. „Wir dürfen uns aber nicht vom Kundenansturm auf die Bike-Shops täuschen lassen. Im B2B-Bereich haben wir in einigen Bereichen immer noch ein Minus von rund zwölf Prozent. Aber auch hier sehen wir eine Erholung“.
Die Wahrnehmung des Fahrrades hat sich in den vergangenen Jahren extrem gewandelt. Heute ist das Fahrrad ein wichtiger Baustein der Mobilität. Speziell während des Lockdowns haben viele Menschen erkannt, dass sie mit dem Rad besser durch die Stadt kommen – ohne mit dem Auto im Stau zu stehen und ohne die Enge der öffentlichen Verkehrsmittel. „Natürlich haben wir in den vergangenen Monaten extrem profitiert“, sagt Industrie-Vertreter Mayne. „Das ist aber schon vor Corona losgegangen“. Und dass die Branche heute so gut dastehe, sei kein Zufall.
Denn die Fahrradbranche hat sich in den vergangenen Jahren gut aufgestellt, beschäftigt professionelle Lobbyisten und Marketing-Experten. Das zahlte sich aus: Auch mitten in der Corona-Krise hatte die Branche eine Strategie und konnte zeigen, dass Fahrradfahren wesentlich ist: für eine funktionierende Mobilität, für die Gesundheit, aber auch für den Spaß. „Ich würde sagen, dass wir das Fahrrad in ein positives Licht gerückt haben“, erklärt Kevin Mayne.
Dieses positive Bild hat sich mittlerweile auch in der Politik festgesetzt. Nach jüngsten Schätzungen von Cycling Industry Europe werden sich die Ausgaben für neue Fahrradwege, für die Förderung des Radverkehrs und die Infrastruktur in Europa in den kommenden Jahren auf rund 900 Millionen Euro belaufen.
Shimano-Mann Dennis Weijers ist sich ebenfalls sicher: „Das Fahrrad ist wieder cool. Für uns alle in der Industrie geht es jetzt darum, diese Dynamik dauerhaft zu erhalten. Es ist nicht nur ein Hype, sondern immer mehr Menschen erkennen die Vorteile des Fahrrads, nicht nur im Sport, sondern genauso im alltäglichen Verkehr. Das Fahrrad bietet einfach gute Lösungen für viele Herausforderungen in der Stadt und auf dem Land.“
Auch Reto Aeschbacher blickt positiv in die Zukunft, sieht aber auch noch wichtige Aufgaben für die Zukunft. Die Branche habe durch Covid-19 eine Achterbahnfahrt erlebt. „Zu Beginn hatten wir ernsthafte Zweifel: Hält die Lieferkette? Können wir überhaupt Fahrräder verkaufen?“, erklärt der CMO von Scott Sports. „Im Rückblick sehen wir – es hat sehr gut funktioniert und an vielen Stellen sind wir ausverkauft.
Wovon die ganze Branche profitiert ist sicher ein Mega-Trend. Bei der Diskussion ums Fahrrad geht es nicht mehr nur um Sport und Vergnügen, es geht zunehmend um Mobilität. Das Thema Nachhaltigkeit rückt immer mehr in den Vordergrund. „Und das Fahrrad ist einfach das umweltfreundlichste Verkehrsmittel“, sagt Aeschbacher. Auch das Thema Gesundheit werde immer wichtiger. Wer mit dem Fahrrad pendelt statt mit dem Auto, lebe gesünder und bleibe fit. „Doch um das dauerhaft zu fördern, brauchen wir die passende Infrastruktur“, stellt Reto Aeschbacher klar.
Denn in den vergangenen fünf Jahren habe sich viel getan, seien viele Menschen neu oder wieder zum Radfahren gekommen, vor allem Pendler, Familien mit Transportfahrrädern, aber auch ältere Menschen. Es gab eine große Unterstützung durch die Politik, auch durch Steuervorteile. Und natürlich hat das Fahrradfahren während Covid-19 einen kleinen Boom erlebt.
„Interessanterweise gab es eine recht große Nachfrage auch im mittleren bis niedrigen Preissegment“, erklärte Aeschbacher auf den ISPO Re.Start Days. „Das ist für mich ein Zeichen dafür, dass viele neue Kunden aufs Rad gestiegen sind.“ Übrigens nicht nur in Europa, sondern gerade auch in noch stärker vom Auto geprägten Märkten wie Australien oder den USA.
Doch was wird aus dem Boom, wenn es durch Covid-19 zu Lieferengpässen kommt? Dennis Weijers von Shimano winkt ab: Bislang sei alles in Ordnung. Die Hersteller müssten allenfalls ein wenig früher ordern als in den Vorjahren üblich. „Wir erwarten auch in den kommenden zwei Jahren auf jeden Fall ein Wachstum, darauf müssen wir uns eben rechtzeitig einstellen“, so Weijers.
Während es in Industrie und Handel wieder aufwärts zu gehen scheint, stehen die Urlaubsregionen mit einem starken Fahrrad-Tourismus noch vor den größten Herausforderungen. Marco Pointner, Geschäftsführer des Tourismusverbands Saalfelden Leogang, und sein Team haben unruhige Wochen hinter sich. Klar sei es während des Lockdowns auf den Trails im Salzburger Land ruhiger gewesen.
Doch im Hintergrund lief der Betrieb auf Hochtouren. Es ging für die Tourismus-Manager um einen breiten Spagat: Möglichst sichere Bedingungen für die Gäste bei gleichzeitig größtmöglichem Bike-Spaß. „Wir wollen, dass unsere Gäste das beste von Saalfelden-Leogang erleben“, erklärt Marco Pointner. Seit dem 29. Mai sind die Lifte wieder geöffnet. Und die Erfahrungen der vergangenen Wochen geben den Salzburgern Recht. „Es funktioniert. Wir haben deutlich mehr Gäste als erwartet und bekommen viele positive Rückmeldungen“, so der Touristiker.
Rückenwind, den Pointner und sein Team gut gebrauchen können. Denn ähnlich wie Lieferanten, Hersteller und Händler muss auch der Tourismus flexibel auf die neue Normalität reagieren und mit Unsicherheiten umgehen können. Und neue Chancen nutzen: Nachdem der ursprüngliche Veranstalter wegen der Pandemie abspringen musste, haben Pointner und sein Team die Mountainbike-WM im Oktober nach Saalfelden Leogang geholt.
„Wir haben den Vorteil, dass wir schon eine Weltmeisterschaft ausgerichtet haben“, erklärt Pointner. „Seit zehn Jahren macht der Downhill-Worldcup bei uns Station – wir mussten also nicht bei null anfangen“. Klar: der nächste Monat werde sehr anstrengend, „aber wir sind sehr optimistisch, dass wir im Oktober 2020 die Welt zu Gast haben werden. Darauf freuen wir uns“, zeigt sich Pointner optimistisch. So nutzt Saalfelden Leogang die Corona-Krise, um das eigene Profil zu schärfen und das Angebot auszubauen. Die Weltmeisterschaft als Krönung soll dann das Bild der Bike-Destination in die Welt transportieren.
Es scheint also, als habe sich die Bike-Branche recht gut mit den neuen Gegebenheiten arrangiert. Jetzt dürfe man nicht nachlassen, erklärt Kevin Mayne von Cycling Industry Europe, vor allem auf der politischen Bühne. Für die Zukunft der Fahrrad-Industrie werde es entscheidend sein, den guten Kontakt zu den politischen Entscheidern aufrecht zu erhalten, angefangen bei den Städten bis zu den Ministerien für Wirtschaft, Verkehr und Gesundheit.
„Wir als Bike-Branche können nicht neunhundert Millionen Euro für das Radfahren ausgeben, das können Städte und Regierungen, sei es durch direkte Investitionen oder durch Steuervorteile“, so Mayne.
Was dem Industrievertreter Mut macht: Nicht nur die Politik, auch ein immer größerer Teil der Bevölkerung sieht im Fahrrad ein wichtiges Stück Zukunft. Ende Juni etwa wurde in Paris Anne Hidalgo als Bürgermeisterin wiedergewählt. Ein wichtiger Bestandteil ihres Programms: Sie möchte 70 Prozent der Parkplätze in der Stadt streichen. „Damit wäre man noch vor ein paar Jahren aus der Stadt gejagt, aber sicher nicht als Bürgermeisterin wiedergewählt worden“, freut sich Kevin Mayne.
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