„Wenn Wanderer uns im Bikepark sehen, dann fragen uns manche, warum macht ihr sowas Extremes und nichts Normales? Aber wer sagt denn, was normal ist? Die Gesellschaft? Und welcher Part ist das dann“, fragt sich Annelina Knauf, eine der wenigen bekennenden Transgender-Mountainbikerinnen, die mit ihrem YT Capra Mountainbike über Gaps springt, meterhohe Drops „runterfällt“ und die ruppigsten Enduro-Trails fährt. Schon als kleines Kind weiß sie, dass sie kein Mann sein möchte. Aber ihre Rolle als Junge spielt sie über Jahre so gut, dass selbst ihre engste Familie nicht mitbekommt, wie sie eigentlich denkt und fühlt. „Du hast einen Oscar verdient“, sagt ihr Vater nach ihrem Coming-out.
Doch die Unterdrückung der Gefühle, nicht wirklich zu wissen, wie sich dieses „Falsch-Fühlen“ beheben lässt, setzt ihr emotional zu. Annelina, damals noch André, wird streitsüchtig und aggressiv – sogar zu ihrem näheren Umfeld. Sie versucht, alles mit sich selbst auszumachen. Der Mountainbike-Sport lenkt sie ab, vor allem das Adrenalin des Downhills. Es wird zu ihrer Medizin, um Gefühle in den Griff zu kriegen und ihr Umfeld nicht noch stärker zu belasten. „Am Schluss habe ich mir selbst die harten Trails und Schlüsselstellen gar nicht mehr angeschaut, sondern bin sie einfach direkt so schnell und aggressiv gefahren, wie ich konnte.“
Im August 2022 folgt die harte Konsequenz dieses Verhaltens. Sie stürzt heftig auf dem Bergstadl-Trail im österreichischen Bikepark Saalbach-Hinterglemm. Diagnose: komplizierte Schultereckgelenksprengung. Folge: zehn Wochen Zwangspause vom Adrenalin und ihrer üblichen Downhill-Medizin. „Als ich keine andere Wahl hatte, als mit mir allein zu sein, habe ich das erste Mal so richtig tief gespürt, wie schlecht es mir eigentlich geht.“
Aus der Verletzungspause wächst die Erkenntnis, dass sie nicht länger im falschen Körper leben möchte. Im November 2022 geht Annelina in der linksliberalen Leipziger Clubszene feiern – der erste öffentliche Auftritt der toughen Mountainbikerin als Frau. Sie fühlt sich wohl in ihrem Outfit – endlich.
Ihr erster Partyabend als Frau endet jedoch mit einer verhängnisvollen Aktion auf dem Heimweg: „Ich war so glücklich wie noch nie. So glücklich, dass ich sterben wollte“, beschreibt Anne. Sie steuert ihren Pkw mit Vollgas in einen Autobahnbrückenpfeiler. Der Suizid-Versuch scheitert – und setzt ein Umdenken in Gang. Anne beschließt, dass sie langfristig glücklich sein und als Frau leben möchte. Das erfordert professionelle Hilfe: Unter 20 Psychiatrien findet sie schließlich eine Einrichtung in Zwickau, die darauf ausgerichtet ist, Trans-Personen auf ihrem Weg zu begleiten.
Geschlechtsangleichung: von Gutachten bis OP
Um Zugang zu medizinischen und rechtlichen Schritten der Geschlechtsangleichung zu bekommen, müssen Trans-Personen in Deutschland verschiedene Formalien erfüllen und Prozesse durchlaufen. Über eine Änderung des Vornamens und Personenstandes wird gerichtlich entschieden. Im Moment sind dafür zwei Gutachten von unabhängigen Gutachtern nötig. 2024 soll allerdings ein neues Selbstbestimmungsgesetz in Kraft treten, das die offizielle Angleichung von Geschlechtsidentität und Geschlechtseintrag einfacher macht.
Allen voran steht meist die Diagnose von Transsexualität / Transidentität / Geschlechtsdysphorie / Geschlechtskongruenz. Für Maßnahmen wie Hormone oder Operationen wird weiter eine medizinische Stellungnahme benötigt, auch bekannt als Indikations-Gutachten. Dies wird nach anderen Kriterien erstellt als die zur Namensänderung. Für eine Kostenübernahme der Krankenkasse werden mehrheitlich ebenfalls Gutachten und weitere Dokumente verlangt. Dazu können eine Indikation für die OPs vom Therapeuten oder der Therapeutin, ein Trans-Lebenslauf mit persönlicher Stellungnahme, fachärztliche Befunde und Berichte über Vorgespräche oder Therapieverlauf gehören. Ein großer Teil der Kosten, etwa für Gutachten, wird oftmals nicht durch die Kasse übernommen.
Auf dem Weg zu einer neuen Identität wird klar, wie schwierig für viele Menschen der Umgang mit Transgender-Personen ist. Es kommen Fragen auf: Handelt es sich um eine psychische Störung? Ist es so etwas wie ein identitärer Geburtsfehler, den man nachhaltig korrigieren kann? Dahinter stehen auch gesellschaftliche Fragen und damit sogar eine gesetzliche Problematik: Ist es ein Krankheitsbild? Wer kommt für eine Geschlechtsangleichung auf? Das Thema birgt viele bürokratische Hürden ...
ISPO Brand Strategist Chris Beaufils spricht im aktuellen sportingWOMEN Podcast mit Anneline Knauf, Marie-Therese Riml und Bine Herzog über Annes mitreißende Geschichte, die MTB-Community und Transgender im Profisport.
Die junge Sportlerin plant ihre Aufnahme in die Psychiatrie minutiös. Sie schickt über 20 mehrseitige Briefe an Familie und Freunde, in denen sie ausführlich ihre Beweggründe und Pläne schildert und die ankommen sollen, wenn ihre Therapie beginnt. Doch die Deutsche Post durchkreuzt die Pläne und liefert die Briefe alle früher aus als geplant. „Ich dachte, der Amazon Kurier klingelt und plötzlich steht mein Opa vor der Tür und sagte nur liebevoll: ‚Komm mit – die Oma hat Mittag gemacht!‘“ Daraufhin folgte das Outing innerhalb des engeren Familienkreises, bevor Anne ihre Therapie in Zwickau beginnt.
Ein weiterer großer Schritt folgt nach ihrer Therapie: Freeride André wird zu Freeride Anne. So nennt sich die Mountainbike-Influencerin nun auf Instagram, wo sie unterhalten, inspirieren und nach ihren Erfahrungen vor allem auch Mut zum Leben machen will. Nach dem Vorbild der neuseeländischen Downhill-Worldcup-Fahrerin Kate Weatherly nimmt sie ein Reel auf – es ist ihr Coming-Out.
„Danach habe ich das Handy ausgemacht und erst mal nicht mehr draufgeschaut.“ Unglaubliche 80 Prozent ihrer Follower verliert Anne innerhalb kürzester Zeit. Doch hier hat sich auch die „geile Seite der Mountainbike-Community“ gezeigt, sagt Anne. Viele Kommentare erreichen sie, darunter bekannte Personen der Mountainbike-Szene. Downhill World Cup Rider Jasper Jauch ist beeindruckt und supported: „So stark, dass du da durchgehst.“ Community-Ikone und Girls-Shred-Gründerin Bine Herzog lädt Anne direkt zum Girls Shred Event nach Serfaus-Fiss-Ladis ein. Das Motto: Community over Competition. „Da ist es egal, was du draufhast und wer du bist. Da geht’s nur darum, eine gute Zeit miteinander zu haben“, berichtet Anne über den Support aus der Mountainbike-Community. Es ist offensichtlich, wie viel es ihr bedeutet.
Anne ist es wichtig, Menschen Mut zu machen, zu sich zu stehen: „Viele haben Angst, sich zu zeigen. Ich sehe mich nicht als erste Transgender-Mountainbikerin in Deutschland. Ich bin bisher leider nur eine der wenigen, die es geschafft haben zu sagen: ‚Hey Leute, das bin ich. Das ist jetzt so.‘“ Auch wenn sie sich selbst nicht so bezeichnen würde – mit vielen neu gewonnenen Followern ist sie zum Symbol für die LGTBQ+ Community geworden.
„Anne ist so eine beeindruckende Mountainbikerin. Sie symbolisiert, dass wir im Sport deutlich mehr Inklusivität benötigen. Bei uns ist jeder willkommen – egal mit welchem Hintergrund“, sagt Marie-Therese Riml von der Bike Republic Sölden, die Anne als Ambassadorin und Model für 2024 ausgewählt haben. „Wir möchten uns mit der neuen Kampagne in Sölden genau dafür einsetzen. Da passt Anne perfekt, und wir hoffen so sehr für sie, dass sie genug Unterstützung für ihre schweren OPs erhält.“
Trotz passender Outfits, Make-up, Frisur und ihrer weiblich-trainierten Stimme wirkt Anne aufgrund ihrer überdurchschnittlichen Größe und ihrer Gesichtszüge maskulin – noch. Das soll sich nun in den kommenden zwei Jahren ändern. Das benötigte Gutachten (siehe Infobox oben) hat Anne bereits, und die begleitende Hormontherapie hat sie ebenfalls begonnen. Doch die eigentlichen Herausforderungen stehen noch an: Weit über 50.000 EUR wird die sogenannte GAO (Geschlechtsangleichung) und FFS (Facial Feminization Surgery) kosten.
GAO & FFS
Geschlechtsangleichende Operationen (GAO) von Mann zu Frau erfolgen in der Regel in zwei Eingriffen. Dabei werden in einer ersten OP Penisschwellkörper und Hoden entfernt, eine Neovagina gebildet sowie die Harnröhre gekürzt. Aus der Peniseichel wird eine Neoklitoris nachgebaut. In einer zweiten, in den meisten Fällen individuell angepassten Operation, finden funktionelle und ästhetische Korrekturen statt.
Männliche und weibliche Gesichter unterscheiden sich durch sekundäre Geschlechtsmerkmale, etwa Unterschiede von Nase, Stirnpartie, Kiefer oder Kinn. Entsprechend werden bei einer Gesichtsfeminisierung oder Facial Feminization Surgery (FFS) eine Reihe von Eingriffen an Weichteilen und Knochen vorgenommen, um dem Gesicht chirurgisch ein feminineres Erscheinungsbild zu verleihen. Die Operationen können je nach Umfang Nasen- und Wangenkorrekturen, Kiefer- und Stirn-Operationen oder eine Vergrößerung der Lippen umfassen, ebenso wie eine Verkleinerung des Adamsapfels.
Das Verletzungsrisiko im Gesichts- und Kopfbereich wird aufgrund von Rekonstruktion und Korrekturen der Knochen (FFS) rund um Stirn, Kiefer und Kinn erhöht bleiben. Daneben sind viele weitere Herausforderungen zu meistern. Es geht hier um Testosteron, Muskelanteil und Psyche. Gerade Transgender-Sportlerinnen laufen bei einer Hormontherapie Gefahr, übermäßig unter dem Testosteron-Mangel zu leiden. Das betrifft auch die sportliche Leistungsfähigkeit: Veränderte Knochendichte, Muskelfaserveränderungen, dauerhaft geringere Kraft-Ausdauer sind nur einige der Risiken.
Anne kann, wie die meisten Influencer im Sport, nicht alleine davon leben und arbeitet hauptberuflich bei einem sehr verständnisvollen und aufgeklärten Arbeitgeber in der Chemieindustrie. Dennoch sind die Kosten überwältigend, bedenkt man, dass bereits sehr hohe Summen in die bisherigen Zuzahlungen, Gebühren und private Behandlungen geflossen sind. Deshalb hat sie eine Go-Fund-Me-Kampagne ins Leben gerufen. Es fällt ihr nicht leicht, öffentlich um Unterstützung zu bitten. Wer Anne aber kennt, weiß, dass sie mit ihrem Beispiel dem Mountainbike-Sport einen neuen spannenden Blickwinkel geben wird und ihn sichtbarer macht.
Und damit berührt die junge Sportlerin mit ihrer Geschichte ein weiteres Thema, das gerade im Profi-Sport nicht einfach zu regeln ist. Sie liebäugelt mit Downhill-Cup-Rennen und sagt selbst, dass es bei den anatomisch-biologischen Gegebenheiten zwischen Männer und Frauen Unterschiede gibt und im Kontext von Transgender-Menschen der Sport aktuell an seine Grenzen komme. Für Anne selbst ist klar, dass es gerade im Profi-Sport und bei Wettbewerben Unterscheidungen zwischen Männer und Frauen geben muss. Das habe schon die Diskussion um die Downhill-Worldcup-Fahrerin Kate Weatherly gezeigt.
Kate Weatherly
Die zweifache neuseeländische Meisterin im Downhill-Mountainbiken und ehemalige Weltcup-Fahrerin ist eine offene Transgender-Frau. Teils deutliche Vorsprünge bei den neuseeländischen Meisterschaften entfachten eine internationale Debatte um die Wettbewerbsgleichheit und Fairness im Frauen-Downhill bei der Teilnahme von Transgender-Sportlerinnen, obwohl Weatherly die vom Verband vorgegebene Testosteron-Richtwerte erfüllte.
Weatherly musste ihre internationale Karriere aufgrund aktualisierter UCI-Regulierungen 2023 vorerst beenden. Durch ihre Teilnahme an nationalen Rennen, ihre Zusammenarbeit mit dem Verband und als Coach ist sie weiterhin Teil der Kiwi-Mountainbike-Szene und Fürsprecherin für LGBTIQ+-Personen im Sport.
Einerseits können biologisch gesehen Männerkörper klare Vorteile durch mehr Muskelmasse und Testosteron haben. Allerdings laufen gerade Transgender-Frauen bei einer Hormontherapie Gefahr, übermäßig an zusätzlichen Verletzungsrisiken durch Testosteron-Mangel, die OPs sowie Belastungen der Psyche zu leiden. Es besteht viel Unsicherheit und das Thema wird politisch, sobald Regulierungen zur Fairness im Profi-Sport mit Inklusion im Sport gegenübergestellt werden.
Der Weltverband UCI (Union Cycliste Internationale) hat geltende Regeln für internationale Wettkämpfe mehrfach angepasst und beruft sich auf den Stand der aktuellen Forschung. Die UCI-Regeln schließen Transgender-Sportlerinnen, die ihre Umwandlung nach der (männlichen) Pubertät vollzogen haben, seit Juli 2023 von den Frauenwettbewerben des internationalen UCI-Kalenders von der Teilnahme aus. An den Männerwettbewerben dürfen sie teilnehmen.
„Da musst du als Transgender-Athlet*in selbst deine Haltung dazu finden, an der Gestaltung der Regeln mitwirken und ggf. zurückstecken, wenn du authentisch sein und ernst genommen werden möchtest“, sagt Anne. Auch solche Erkenntnisse und Meinungen musste sie sich in den vergangenen zwölf turbulenten Monaten erst aneignen. „Ich habe viel gelernt. Über mich selbst, die Gesellschaft und den Sport. Mein Horizont hat sich erweitert.“ Sie verdankt es dem Mountainbiken und fühlt sich dank der MTB-Community stark genug, die vor ihr liegenden Herausforderungen zu meistern. „Vielleicht gibt es noch jemanden, der so denkt“, schreibt sie auf Instagram und möchte anderen Mut machen. Ihr Instagram-Kanal und sogar ihr WhatsApp-Profil sind ein Aufruf: „Make it happen girl. Shock everyone.“
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