Jeder Läufer kennt das Problem: Ein Wettbewerb steht an, doch das Training stagniert. Die Laufschuhe stehen zwar schon an der Türschwelle bereit, die fehlende Motivation oder der Terminkalender machen einem jedoch immer wieder einen Strich durch die Rechnung. Um dem ambitionierten Trainingsplan noch gerecht zu werden, wird die Intensität gesteigert, der eigene Körper unmittelbar beim ersten Jogging von null auf hundert gepusht – ein Fehler, der umgehend bestraft wird.
Schon beim ersten Lauf, bereits nach einigen Metern, schmerzt der Unterschenkel entlang der Schienbeinkante. Diese Schmerzen bleiben während des Laufs bestehen, verschwinden zumeist aber nach der Einheit wieder. Getreu dem Motto „Aus dem Auge, aus dem Sinn“ verzichten Läufer auf den Besuch beim Arzt, stattdessen wird derselbe Fehler beim nächsten Training wieder begangen. Spätestens dann kommt der Schmerz zurück, auch im Ruhezustand wird er bei gezieltem Druck zunehmend spürbar.
Je häufiger das Problem auftritt, desto eher wird man einen Experten aufsuchen. Schnell wird der Arzt die Symptome als Schienbeinkantensyndrom benennen. „Wenn dann einmal die Diagnose gestellt ist, fängt allerdings die Arbeit erst an“, warnt der ehemalige Leichtathlet und heutige Chiropraktor Sven Knipphals.
Studien zufolge leidet jeder zwölfte Läufer an dem Schienbeinkantensyndrom, das unter den verschiedensten Namen bekannt ist. So sind auch Bezeichnungen wie Shin Splints oder Funktionelles Kompartmentsyndrom geläufig. Auch wenn die Diagnose allein angesichts die Symptome meist schnell gestellt werden kann, sollte zusätzlich durch ein Röntgenbild oder MRT eine mögliche Fraktur ausgeschlossen werden.
Neben Belastungsreaktionen spielen vor allem die Biomechanik und die Stoßdämpfung entscheidende Rollen. Vornehmlich ist das Schienbeinkantensyndrom eine Reizung der Knochenhaut aufgrund einer Überlastung des hinteren Schienbeinmuskels, dem Musculus tibialis posterior, der hauptsächlich dem Fuß beim Laufen dabei hilft, eine Überpronation zu vermeiden, also ein übermäßiges Abkippen des Fußes im Zuge der Abrollbewegung.
„Zur Überpronation neigen insbesondere Athleten, die eine schlechte Becken-Hüft-Stabilisation sowie blockierte oder eingeschränkte Sprunggelenke haben“, erklärt Knipphals. „Therapeutisch muss man also meistens Iliosakralgelenke, Hüften und oberes sowie unteres Sprunggelenk therapieren und die Athleten zu einer besseren Fuß-, Knie-, Hüft- und Beckenstabilisation anleiten“, ergänzt der Deutsche Vizemeister über 200 Meter von 2013.
Reaktionen, die nicht durch Fehlstellungen oder Blockaden, sondern nur belastungsbedingt durch ungewohnte Reize und Untergründe oder neue Schuhe auftreten, sollten laut Knipphals innerhalb von 14 Tagen mit moderater Belastung auskuriert sein.
Doch falsches Training allein ist nicht der Grund für das Schienbeinkantensyndrom. „Oft sind falsche Laufschuhe die Ursache für die Probleme“, erläutert Physiotherapeut Thomas Marx. Dies betreffe oftmals Laufanfänger, die ihr Schuhwerk nach eigenem Gusto, aber nicht nach Effektivität auswählen. Besonders eine zu hohe Sprengung könne für den Laufnovizen gefährlich werden. Aus diesen Gründen wird das Syndrom in Läuferkreisen auch als Kinderkrankheit beschrieben
Doch wie bereits erwähnt, ist dies deutlich mehr als nur ein Anfängerproblem. Auch der geübte Läufer mit guter Technik und dem richtigen Schuhwerk kann zum Beispiel bei zu hoher Belastung vom Schienbeinschmerz heimgesucht werden. Der ehemalige Sprinter Knipphals, der seine aktive Profikarriere im Sommer 2018 beendete , wurde schon selbst von dem Syndrom heimgesucht, als er mit der Leichtathletik anfing. Vornehmlich habe er es im Winter auf dem Hallenbelag gemerkt, und nicht im Sommer im Freien. „Ob das explizit am Unterschied des Bahnbelags in der Halle gegenüber dem im Stadion lag oder weil man im Sommer auch öfter mal auf Rasen läuft, kann man nicht hundertprozentig sagen“, erklärt Knipphals.
Meist können sich die Betroffenen selbst helfen. Unabhängig von der Ursache sollte als Sofortmaßnahme das Laufen oder Joggen umgehend eingestellt werden, bis die Schmerzen vollständig abgeklungen sind. Als Ersatzsportarten können während der Laufpause in Absprache mit dem Arzt Schwimmen, Aquajogging oder auch Fahrradfahren dienen.
Zusätzlich zu der verordneten Zwangspause werde ein Orthopäde laut Marx zunächst mit einer Schallwellentherapie beginnen. „Als Physiotherapeut wende ich dann direkt an der Stelle mit meinem Daumen fasziale Technik und Akupressur an“, schildert der Hobbyläufer einen Aspekt der Therapie. Da die möglichen Ursachen ambivalent sind, gilt dies auch für die Therapieansätze.
Um nach der Laufpause beim Wiedereinstieg nicht in den Teufelskreis des Schienbeinkantensyndroms zu geraten, sollten die Ursachen gründlich analysiert und behoben werden, ansonsten werden erneut Schmerzen auftreten. Bei Menschen mit Fehlstellungen von Beinen und Füßen können Einlagen das Problem beheben.
Generell bietet sich für Laufanfänger bzw. Läufer mit häufigeren Problemen an den Schienbeinen eine Analyse der Lauftechnik an. Auch der Kauf weiterer Schuhpaare für mehr Abwechslung sowie eine Variation des Laufuntergrunds können hilfreich sein. In jedem Fall sollte eine individuelle Analyse gemacht werden.
Das Wichtigste bleibe aber Marx zufolge das Einhalten von Ruhepausen: „Die erste und auch wichtigste Maßnahme ist eine Laufpause.“ Doch das strikte Laufverbot sei manchmal schwierig zu vermitteln. „Wenn das Syndrom behandelt wird, stellt sich erst einmal schnell eine Besserung ein, und Patienten werden euphorisch“, berichtet er.
Danach sei bei wiederkehrendem Schmerz die Enttäuschung groß, und das Ziel, wieder laufen zu können, rücke in weite Ferne. Besser also die Intensität langsam steigern, dafür aber deutlich mehr vom Laufen haben. Dann klappt’s auch mit dem nächsten Marathon.
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