2012 hungert sich Sophia Thiel von 80 Kilogramm Körpergewicht auf 50 Kilogramm herunter – bei einer Größe von 1,72 Metern. Sie beginnt mit Bodybuilding, und der Teufelskreis aus „trainieren, essen, schlafen“ nimmt Fahrt auf. „Ich habe immer gedacht, mein Körper ist ein Arschloch, den muss ich prügeln.“ Die damals 17-Jährige baut sich eine riesige Social-Media-Community auf, lässt ihre Follower an ihrem auf Fitness getrimmten Leben teilhaben.
2019 geht plötzlich gar nichts mehr. Für zwei Jahre taucht die heute 27-Jährige komplett ab. 2021 dann das Comeback – inklusive der Veröffentlichung ihres Buches „Come back stronger“ (erschienen im ZS Verlag) – mit deutlich mehr Kilogramm auf den Rippen. Thiel spricht nun offen über ihre Essstörung. Und auch heute noch kämpft sie regelmäßig mit Essanfällen (Binge Eating). „Mein Körper, die Diäten und ich. Ich habe in der Vergangenheit hinter den Kulissen sehr viel Schindluder mit mir betrieben und bin über die Entwicklung seit meiner Pause mehr als nur dankbar.“ Wie schlecht es ihr teilweise ging und wie zerstörerisch sie mit ihrem Körper umging, erzählt die Fitness-Influencerin auch in der ZDF-Reportage „37 Grad“.
In ihrem Buch schreibt sie über ihre persönlichen Erfahrungen, Erkenntnisse und den Umgang mit ihrer Essstörung. Sie hoffe, „dass ich damit vielleicht vielen da draußen eine Hilfestellung bieten kann“. Sie habe lange gebraucht, um zu erkennen, dass sie nicht perfekt sei oder irgendwelchen Idealen entsprechen müsse. „Sich selbst zu akzeptieren ist manchmal nicht so einfach“, gibt sie offen zu. Aber: Der Weg zu sich selbst sei es wert, beschritten zu werden. Deshalb stellt sie sich nun regelmäßig Fragen – über das eigene Selbstbild, die Zukunft, den Alltag und vor allem „Das tut mir gut“. Außerdem habe sie Eisbaden für sich entdeckt – als eine Art Meditation.
Während im Spitzensport mehr die Krankheitsbilder Magersucht, Bulimie und Binge Eating im Fokus stehen, schlägt sich die Allgemeinbevölkerung mit zu viel Gewicht herum. Laut den jüngsten RKI-Zahlen sind in Deutschland insgesamt 53,5 Prozent der Bevölkerung von Übergewicht (einschließlich Adipositas) betroffen. Die Männer (rund 61 Prozent) toppen hier die Frauen (rund 47 Prozent). Bei 19 Prozent der Erwachsenen liegt eine Adipositas vor. Dies bestätigt auch Dr. Silja Schäfer von den Ernährungs-Docs. „Wir sehen, dass die Extreme zunehmen. Dementsprechend nehmen alle Essstörungen zu.“ Vor allem bei Jugendlichen sei die Problematik „echt erschreckend“. Und bei den über 60-Jährigen beobachte die Ernährungsmedizinerin, dass rund 70 Prozent übergewichtig seien. Diesem Thema widmet sich auch das aktuelle Buch der Ernährungs-Docs „Unser Anti-Bauchfett-Programm“ (erschienen im ZS Verlag).
Generell trifft der sogenannte Body-Mass-Index der WHO (World Health Organization) eine Aussage über das Gewicht im Normbereich. Einige Rechner erweitern die einfache Formel (Körpergewicht geteilt durch Körpergröße in Metern im Quadrat) allerdings um Geschlecht und Alter.
Grund: Ab 40 ist es ganz normal zuzunehmen, das heißt aber noch lange nicht, dass das Gewicht außerhalb der Norm liegt. Ein weiterer Kritikpunkt am BMI ist, dass lediglich die Körpermasse betrachtet wird, und nicht das Verhältnis zwischen Fett- und Muskelmasse. Denn wer viel Sport treibt, und damit Muskeln aufgebaut hat, der kann sogar einen BMI über 25 haben und damit laut der Definition als übergewichtig eingestuft werden. Aus diesem Grund empfiehlt Dr. Schäfer eine BIA-Messung (Bioelektrische Impedanzanalyse). Diese zeige „exakt die Körperzusammensetzung“ unter anderem in Bezug auf Muskeln, Körperfettdepots und auch Wasser.
Laut den Forbes-Expert*innen liegen 2023 folgende Ernährungsformen im Trend: An erster Stelle steht die mediterrane Diät mit frischen Früchten und Obst, Vollkornprodukten, Nüssen, Gemüse, Fisch und Olivenöl. Auf dem zweiten Platz findet sich eine vegetarische Ernährungsweise gefolgt von der DASH-Diät (Getreide, Fleisch, Geflügel, Fisch, Obst und Gemüse). Die auf wissenschaftlichen Erkenntnissen entwickelte DASH-Diät soll Bluthochdruck senken. Die Abkürzung DASH steht für „diätetischer Ansatz zum Stopp von Hochdruck“.
Als beste kommerzielle Diät kommt Weight Watchers auf Platz vier, und die App Noom auf Platz fünf. Bei Noom handelt es sich nach Meinung von Forbes-Expertin Dr. Melina Jampolis „nicht um eine Diät, sondern eher um einen Lebensstil für mehr Nachhaltigkeit. Das Programm basiert auf einer Verhaltensänderung, die ein Schlüsselelement für eine erfolgreiche und dauerhafte Gewichtsabnahme ist – es wird versucht, über die bloße Kalorienzufuhr und -abgabe (Sport) hinauszugehen und dem Einzelnen zu helfen, zu verstehen, warum er übermäßig isst oder schlechte Entscheidungen trifft.“
Doch nicht nur Übergewicht und Fettleibigkeit nehmen in den Industrieländern zu, sondern auch Essstörungen wie Anorexia nervosa (Magersucht) und Bulimia nervosa (Ess-Brech-Sucht) sowie die Binge-Eating-Störung. Die bewusste Verringerung des Körpergewichtes bis zur Grenze des Untergewichtes, um eine bestimmte sportliche Leistung zu erreichen und um Anerkennung zu gewinnen, wird laut dem „Deutsche Ärzteblatt“ als Anorexia athletica (besser wäre vielleicht Pseudoanorexia athletica) bezeichnet.
Das Klischee, dass vor allem Mädchen oder Models unter Erkrankungen wie Magersucht oder Bulimie leiden, stimmt nach Erkenntnissen der deutschen Krankenkasse Barmer nicht. Eigene Hochrechnungen zeigen einen deutlichen Anstieg an Essstörungen bei Männern und Frauen um 13 Prozent innerhalb von vier Jahren.
Zudem würden diverse Untersuchungen mit US-amerikanischen Studierenden darauf hindeuten, dass es bezüglich der Häufigkeit kaum (noch) Unterschiede zwischen Männern und Frauen gibt. Würden die Symptome einer Essstörung wie selbst herbeigeführtes Erbrechen, Essanfälle, Gebrauch von Abführmitteln oder exzessiver Sport betrachtet, komme eine weitere Studie zu dem überraschenden Ergebnis: Unter Jugendlichen sind diese Störungen unter Jungen und Mädchen gleichermaßen häufig.
Fast jeder zweite Patient mit einer Essstörung treibt nach Worten von Professor Dr. Almut Zeeck, Leitende Oberärztin der Klinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie des Universitätsklinikums Freiburg, in einer problematischen Art und Weise Sport. Egal ob Laufen, Radfahren oder Schwimmen: Patienten, die an Magersucht oder Bulimie leiden, würden Sport einsetzen, um gezielt ihr Gewicht oder die Figur zu beeinflussen. „Sie haben einen strengen Plan im Kopf und werden sehr unruhig, wenn sie zum Beispiel nicht die Möglichkeit haben, vor dem Frühstück eine Stunde laufen zu gehen“, sagt die Oberärztin.
Problematisch werde sportliche Aktivität aber nicht nur, wenn diese exzessiv betrieben werden, sondern auch, wenn Patient*innen sich schuldig fühlen, wenn sie keinen Sport treiben können. Weitere Warnzeichen: Wer trotz Verletzung oder Krankheit nicht mit dem Sport aufhören kann. Betroffene gönnen ihrem Körper oftmals keine Pause und Zeit zur Regeneration nach dem Training. Auch die Motive würden eine Rolle spielen: Wer keine Freude an der Bewegung mehr habe, sondern nur mehr versuche, durch den täglichen Sport die vermeintlich vielen Kalorien zu verbrauchen.
Für viele Spitzensportler*innen ist das Thema Gewicht oft eine Gratwanderung zwischen Wettbewerbsnachteilen wegen eines zu hohen Gewichts und Leistungseinbußen aufgrund eines zu niedrigen Gewichts. „In manchen Sportdisziplinen wie Leichtathletik, Skifliegen, teilweise im Kampfsport und in den ästhetischen Sportarten ist mutmaßlich ein möglichst niedriges Körpergewicht gefordert“, sagt Dr. Christine Kopp, Oberärztin der Tübinger Sportmedizin und Verbandsärztin des Deutschen Leichtathletik-Verbandes. Die Medizinerin hat aufgrund der Problematik 2019 eine Sprechstunde für Leistungssportlerinnen initiiert. Diese ist Anlaufstelle für Athletinnen aus ganz Deutschland, die zu geringes Körpergewicht oder auffällige Symptome wie Leistungseinbrüche, Hormonstörungen oder Ermüdungsfrakturen haben.
Deutschlands beste Läuferin, Konstanze Klosterhalfen, sieht sich regelmäßig Vorwürfen ausgesetzt, sie sei zu dünn. Bei einer Größe von 1,74 Metern bringt sie gerade mal 48 Kilogramm auf die Waage. Das entspricht einem Body-Mass-Index von 15,85. Laut dem Bundeszentrum für Ernährung bedeutet ein BMI unter 18,5 Untergewicht. Allerdings: In diversen Interviews betont die 25-jährige Leichtathletin, wie wichtig ihr gesunde Ernährung sei, und dass sie diese ständig optimiere.
Ernährungs-Doc Schäfer kennt die Gewichtsproblematik in der Leichtathletik. „Zu mir kommen Trainer*innen und suchen Hilfe. Ich rate dann, das Thema klar anzusprechen und zu sagen, wo die Arbeit des Trainers aufhört, und eine psychologische Betreuung wichtig wäre.“ Aber die Ernährungsmedizinerin gibt auch offen zu: „Beim Thema essgestörte Kinder sind wir oft hilflos und wissen nicht, wann wir eingreifen sollen.“ Deshalb findet sie es nach eigenen Worten „gut“, wenn bekannte Sportler*innen wie beispielsweise Sophia Thiel das Thema Essstörungen publik machen.
Unter dem Hashtag Body Positivity trauen sich zunehmend mehr Frauen und Männer ihre „unperfekten“ Körper zu präsentieren. Allerdings warnen diverse Mediziner in diesem Zusammenhang vor den negativen Folgen von Übergewicht. In einer Studie aus dem Jahr 2018 stellten österreichische und englische Wissenschaftler genau diesen Zusammenhang her: Immer mehr Menschen haben Übergewicht und empfinden dies aber nicht als negativ oder schädlich für ihre Gesundheit. Dr. Schäfer, selbst Mutter, empfiehlt, sich die „guten Aspekte“ der sozialen Medien herauszusuchen, die Inhalte immer zu hinterfragen und „nicht einfach jemandem nur so zu folgen“.
- mehr Gemüse: Anteil von mindestens 50 Prozent pro Mahlzeit
- mehr Eiweiß: zu jeder Mahlzeit ein Lebensmittel mit Eiweiß-Bestandteil
- weniger Kohlenhydrate – hängt aber auch immer auch davon ab, wie viel man sich bewegt beziehungsweise „erarbeitet“
- mehr trinken: 30 bis 35 Milliliter pro Kilogramm Körpergewicht über den Tag verteilt
- Gedanken über die Ernährung (regional/saisonal/Bio-Produkte) und Lebensweise machen
- beim Hausarzt ein aussagekräftiges Blutbild machen lassen (unter anderem Mineralstoffe, Fette, Eiweiße, Vitamine)
- Ernährungsberatung in Anspruch nehmen
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