- Zwischen den Schafen auf den Färöer-Inseln
- Bei Sonnenaufgang auf dem Gletscher
- Allein – oder vor 40.000
- Glücksmomente am Glücksort
- Stadtpark statt Chinesische Mauer
- Wer sucht, wird scheitern
- Geteilte soziale Erlebnisse
- So riecht der Hahnenkamm
- Heimat Alpen: Faszination und Erbe
- Tourismus im Einklang mit der Natur
- Kinder als Gäste von morgen
- Virtuelle Alpen – nichts für Felix Neureuther
„Ich bin in Grönland bei Minus 25 Grad gelaufen. Mir haben an der Chinesischen Mauer Kinder die Hände entgegengestreckt. Ich war in Nordkorea. Und ich bin in Rio entlang der Strände Ipanema und Copacabana gelaufen“, sagt Benjamin, Trailrunner und Teilnehmer an einer faszinierenden Studie über die beinahe schon heiligen Orte, an denen Sport einen ganz besonderen Zauber kreiert. „Aber ich mag auch die Läufe auf den Färöer-Inseln, wenn man mit hundert Startern zwischen Schafherden durch die Fjorde rennt.“
„Wechselbeziehungen zwischen Landschaften, Sportstätten und Erlebnissen an bestimmten Orten“ – so lautet in etwa auf Deutsch der Titel der Studie von Kirstin Hallmann von der Deutschen Sporthochschule Köln und Anita Zehrer vom MCI Management Center Innsbruck. Sie haben dafür 24 Läufer*innen und Kletterer*innen interviewt, deren Sporterlebnisse unauslöschliche Spuren in der Seele hinterlassen haben.
Felix Neureuther, Ski-Weltmeister und Sieger von 13 Weltcup-Rennen, kennt diese „Magic Moments“ in allen Varianten. Er verrät ISPO.com: „Umgebung ist gerade für uns Wintersportler ein Riesenfaktor. Wenn du beim Training in der Früh auf den Gletscher rauffährst, ist es noch dunkel, und du siehst die Sonne aufgehen. Da bist du ganz mit dir allein. Diese Stille hast du sonst im ganzen Leben nicht – nicht einmal am Meer, denn da plätschert das Wasser.“
Das exakte Gegenteil, das Neureuther erleben durfte, sind 40.000 enthusiastische Fans beim Night Race in Schladming oder 20.000 beim legendären Slalom am Ganslernhang in Kitzbühel, den er zweimal gewonnen hat (und sein Vater Christian einmal): „Wenn ich nach Kitzbühel gefahren bin, ist mit jedem Kilometer die Vorfreude gewachsen. Und spätestens am Ortsschild hatte ich dieses ‚Come on‘-Gefühl und wollte zeigen, für was ich das ganze Jahr trainiert habe. Der einsame Gletscher und der Wahnwitz von Kitz, das sind die Extreme für einen Slalomfahrer. Ich hätte auf beide niemals verzichten wollen.“
Wenn Felix Neureuther am Ganslern gewinnt, wenn nichts mehr weh tut, wenn die Beine (oder die Skier) ganz von alleine laufen, beschreibt das Sportwissenschaftlerin Kirstin Hallmann so: „Das ist tatsächlich, was die Psychologen als Flow-Erlebnis bezeichnen – ein Zustand, in dem man wirklich gefordert ist, aber in dem man das auch gut beherrschen kann. Dadurch entsteht eine Leichtigkeit des Seins, bei der Zeit keine Rolle mehr spielt, und in der man ganz in diesem Moment gefangen ist.“ Eben Glücksmomente am Glücksort. One Moment in Time. Oder mit den Worten von Kletterer Michael: „Ich fühle mich in diesem Moment vollkommen sicher und habe nicht das Gefühl, dass ein Fehler passieren kann. Da ist absolute Kontrolle über die Situation.“
Um diese Euphorie zu erleben, müssen Sportlerinnen und Sportler nicht nach China, Nordkorea oder Brasilien reisen. Denn der persönliche „Happy Place“ kann auch direkt um die Ecke liegen, so Kirstin Hallmann: „Das kann im Wald sein, im Stadtpark, in Köln am Rheinufer oder in München im Englischen Garten – und durchaus auch auf der Tartanbahn, wenn man sich in dieser Umgebung besonders wohlfühlt.“
Nur eines sollten Sportler nicht versuchen – hartnäckig auf die Jagd nach ihrem eigenen „Magic Place“ gehen. „Wenn man es zu bewusst probiert, wird man wahrscheinlich scheitern“, warnt Expertin Hallmann. „Denn es kommt tatsächlich auf den einen Moment in der Zeit an.“ Und deshalb ist der Glücksort heute nicht immer auch der Glücksort morgen, weiß die Wissenschaftlerin: „Es wird Tage geben, in denen man besonders im Flow ist, und an denen sich der Olympiapark in München oder das Rheinufer in Köln perfekt anfühlen. Es gibt aber auch Tage, in denen diese Emotionen am gleichen Ort einfach nicht aufkommen. Man macht natürlich trotzdem weiter – und es wird auch wieder ein anderer Tag kommen.“
Bei den Glücksorten geht es nicht nur um Plätze, Städte und Regionen – sondern auch ums gemeinsame Erleben, erklärt Kirstin Hallmann: „Der Raum, in dem der Sport ausgeübt wird, hat eine extrem hohe soziale Komponente: Wie unterhalte ich mich mit meinen Mitläufer*innen über das Laufen – oder wenn zum Beispiel beim Klettern abends alles nochmal aufgearbeitet wird.“ Kletterin Betty schildert das so: „Es ist ein gemeinsames Ereignis, wenn man zusammen an den Felsen geht und klettert, wenn man irgendwo in einer Gruppe den Tag genießt.“
Wenn der perfekte „Magic Place“ seinen Zauber entfaltet – dann ist das tatsächlich ein Erlebnis für alle Sinne, dann lässt sich das Sportlerglück sehen, hören, riechen, spüren und schmecken. Felix Neureuther verrät augenzwinkernd (und ein bisserl naserümpfend), wie ein Slalomsieg in Kitzbühel riecht: „Dort ist es ja so, dass am Samstag die Abfahrt ist, und am Sonntag der Slalom. Am Samstagabend und in der Nacht lassen es die Leute gewaltig krachen, da geht es wild zu. Und diese, sagen wir, Hinterlassenschaften, die riecht man am Sonntag auch noch. Das ist der ganz besondere Duft des Slaloms in Kitzbühel.“
Auch nach seinem Rücktritt vom aktiven Sport 2019 hat sich der Glücksort von Dreifach-Papa Felix nicht verändert: „Das ist natürlich die wunderschöne Heimat rund um Garmisch, in der ich aufwachsen durfte und in der ich mit meiner Familie lebe. Diese traumhafte Kulisse, die Berge, die Natur – diese Faszination und Begeisterung wird mich nie loslassen.“
Neureuther kämpft engagiert darum, dass die Alpen und ihre Natur für seine Kinder und seine Enkel – und für deren Nachkommen – erhalten bleiben. Darüber schreibt er in seinem neuen Buch „Das Erbe der Alpen“, das am 5. Oktober 2023 erscheint. Und dafür entwickelt er Ideen, die er mit Tourismusmanagern und Event-Veranstaltern diskutiert: „Auch wenn sich das widersprüchlich anhört, wäre es wichtig, dass die Leute länger zum Skifahren in die Alpen kommen, für mehrere Tage, für eine Woche oder länger. Denn 80 Prozent der CO₂-Emissionen beim Skiurlaub entstehen durch die Anfahrt. Deswegen müssen wir weg von diesen Tagestouren. Bei längeren Aufenthalten fällt die Anreise gleich weniger ins Gewicht.“
Einer der Neureuther-Vorschläge, wie sich die „Challenge“ bestehen lässt, Tourismus und Naturschutz in Einklang zu bringen: „Ich glaube, dass es wichtig ist, dass man danach schaut, dass die Leute nicht kreuz und quer über den Berg rennen und alles platt trampeln, sondern dass man sie auf einen Pfad bringt. Denn daran passen sich die Tiere an. Aber wenn die Leute überall auf dem Berg unterwegs sind, wird es schwierig für die Natur. Lieber gebündelt an einem Platz als zigfach über mehrere Plätze verteilt. Dann kann der Tourismus durchaus im Einklang mit der Natur stattfinden.“
„Der Gedanke, dass Landschaften aus Sicht der Sportler Attraktionen sind, muss von den Destinationsmanagern besser für die Entwicklung genutzt werden“, schlägt Expertin Kristin Hallmann vor. Felix Neureuther empfiehlt, damit möglichst früh zu beginnen: „Diese Glücksorte werden oft schon in der Kindheit geprägt. Wenn du mit deinen Eltern in einem bestimmten Skigebiet bist, oder zum Kraxeln in den Bergen – dann kommst du da auch als Erwachsener gerne wieder hin. Deshalb wäre es wichtig, dass die Tourismusregionen und Veranstalter ganz gezielt auch Kinder und Familien ansprechen. So (er-)ziehst du dir die Gäste, die Touristen und Fans von morgen.“
Noch umweltverträglicher wäre es allerdings, wenn die Menschen künftig virtuell in die Berge reisen – und den Sonnenaufgang am Gletscher mit der VR-Brille erleben. Ski-Legende Neureuther hält Angebote wie das virtuelle Skifahren Hope on the Slopes oder die AR-Skibrille Sirius allerdings für reichlich absurde Ideen: „Das kann nicht funktionieren, keine Chance. Du kannst nicht auf einem viereckigen Kasten dieses Bild anschauen und die gleichen Emotionen erleben, als wenn du selber vor Ort bist. Das wird sich niemals verändern, mit keiner künstlichen Intelligenz dieser Welt. Das Erlebnis, wenn du es geschafft hast, auf einen Berg rauf zu gehen, und wenn du dann auf deinen Weg runterschaust – diese überwältigenden Emotionen lassen sich nicht digital herbeiführen.“
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