Dr. Manuel Föcker ist leitender Oberarzt der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie am Universitätsklinikum Münster. Zusammen mit dem Sportwissenschaftler Dr. Matthias Marckhoff untersuchte er die Auswirkungen der Corona-Pandemie auf die körperliche Aktivität und das psychische Wohlbefinden von Heranwachsenden zwischen 11 und 17 Jahren. Ihr Ergebnis: Sport und Bewegung sind massiv eingebrochen, bei steigender Bildschirmzeit. Nahezu ein Viertel bewegt sich gar nicht mehr. Alarmierend, denn ihre Studie zeigte auch: Gleichzeitig verschlechterte sich das psychische Wohlbefinden der Kinder.
Im Interview mit ISPO.com erklären Föcker und Marckhoff welche Rolle Bewegung für die mentale Gesundheit und die Lernentwicklung von Kindern spielt, was Bewegungsmotivatoren sein können und wie Sport die kindliche Psyche positiv beeinflusst – auch für die Zukunft.
ISPO.com: Herr Dr. Marckhoff und Herr Dr. Föcker: Welche Rolle spielt regelmäßige Bewegung für die mentale Gesundheit von Kindern?
Marckhoff: Bewegung, Spiel und Sport beeinflussen die psychische Gesundheit von Kindern auf drei Ebenen:
- auf biologischer Ebene fördert Bewegung die neuronale Entwicklung des Kindes und wirkt positiv auf verschiedene Gehirnfunktionen.
- auf psychischer Ebene fördern Selbstwirksamkeits- und Kompetenzerfahrungen ein positives Selbstkonzept des Kindes.
- auf sozialer Ebene ist Sport ein schier unerschöpfliches Experimentierfeld zur Persönlichkeitsentwicklung.
Wie kann man sich die Auswirkung auf das Gehirn konkreter vorstellen?
Föcker: Zahlreiche Studien deuten darauf hin, dass körperliche Aktivität und Bewegung über eine vermehrte Ausschüttung von neuronalen Wachstumsfaktoren die Entwicklung verschiedener Gehirnregionen fördern. Das führt zu einer verbesserten Zellproliferation, also verbesserte Zellteilung und -wachstum. Je nach Hirnregion können sich diese Wachstumseffekte positiv auf die kognitive Leistungsfähigkeit, die Exekutivfunktionen und, damit eng verbunden, auch emotionale Regulationsprozesse auswirken. Auf Grund der hohen Anpassungsfähigkeit, der sogenannten Neuroplastizität des Gehirns in Kindheit und Jugend, scheinen sich Sport und Bewegung in diesen Lebensphasen besonders stark auszuwirken.
Wie stärkt Sport unsere Kinder also konkret insbesondere im Hinblick auf die aktuelle Coronapandemie?
Die Frage, wie gut ein Kind durch Krisen geht, hängt maßgeblich von den zur Verfügung stehenden Bewältigungsressourcen ab. Sport und Bewegung stärken diese Ressourcen, weil sie…
- wie ein Stresspuffer wirken und die Emotionsregulation verbessern können.
- ganz unmittelbar das körperliche und psychische Wohlbefinden verbessern.
- den Kindern helfen, sich selbst als handlungsfähig und damit nicht als hilflos ausgeliefert zu erleben.
- Kindern Erlebnisse sozialen Rückhalts ermöglichen – auch aktuell in Verbindung mit der Familie oder zumindest einem weiteren Kind.
Und im akuten Fall wie Depressionen oder Angst?
Viele Studien konnten zeigen, dass körperliche Aktivität - insbesondere Sport mit höheren Intensitäten - auch bei Kindern und Jugendlichen zu einer Verbesserung depressiver Symptome führen kann. Unsere und auch weitere Studien zu körperlicher Aktivität und psychischer Gesundheit unter Pandemiebedingungen zeigen, dass ein höheres Maß an Bewegung mit größerem psychischen Wohlbefinden zusammenhängt. Auch gibt es Hinweise, dass Sport und Bewegung (zumindest in der Gruppe der nicht psychisch erkrankten Kinder und Jugendlichen), positive, angstlösende Effekte zu haben scheinen.
Vereinssport fällt Corona bedingt flach, Treffen mit Freunden ebenso. Wie können wir die Bewegungszeit für Kinder in der Covid19-Zeit sinnvoll & effektiv erhöhen?
In Pandemiezeiten körperlich aktiv zu bleiben ist eine echte Herausforderung und es gibt kein Patentrezept, dass für alle Familien passt. Ganz grundsätzlich gilt: Sport und Bewegung in der Natur wirken stärker auf das psychische Wohlbefinden, als es der Sport zu Hause tut.
Bewegungssteigernd für Kinder und Jugendliche kann beispielsweise sein:
- Gamification, sprich Bewegung mit spielerischen Elementen verbinden. Wie ein Sonntagsspaziergang mit Geocaching, Räuber und Gendarm spielen im Wald oder auch mit dem Fußball in den Park.
- Eine konkrete Verabredung mit einem weiteren Kind/Jugendlichen zum Sport.
- Ganz simpel: das Auto stehen lassen und Alltagswege mit dem Rad zurücklegen. Gleichzeitig fördert das die Selbstständigkeit der Kinder.
- Mikroabenteuer wie Nachtwanderung im Wald, Fahrradtour mit Picknick und Campingkocher, Staudamm bauen am Bach oder Übernachten im Gartenhaus.
- Ziele setzen! Wie: in drei Wochen möchte ich mit dem Skateboard über den gesamten Pumptrack fahren können, mit drei Bällen jonglieren oder im Handstand durch den Garten laufen.
… und hat das die gleichen Effekte wie Vereinssport oder in der Gruppe mit Freunden aktiv sein?
Ohne den sozialen Aspekt kann der Sport seine entwicklungsfördernde Kraft nicht in gewohntem Maße entfalten. Dennoch ist Sport allein, mit der Familie, oder einem einzelnen Freund ein wichtiger gesundheitlicher Schutzfaktor. Wer Sport treibt und sich viel bewegt fühlt sich besser und ist für die Krisenbewältigung besser aufgestellt.
Der Schulsport ist Corona bedingt – wenn überhaupt – auf ein Minimum zurückgefahren. Wie wichtig ist ausreichend Bewegung insgesamt für das Lernen bzw. die Lernentwicklung unserer Kinder?
Auch wenn die zugrundeliegenden Mechanismen vielfach noch unbekannt sind, scheint Sport durchaus unsere Lernfähigkeiten günstig zu beeinflussen. Gerade in der frühen kindlichen Entwicklung setzt Bewegung wichtige Impulse für die Gehirnentwicklung.
Zumindest in Tierversuchen konnte auch gezeigt werden, dass Bewegung positive Effekte auf die Gehirnfunktion und die Neubildung von Nervenzellen haben kann.
Darüber hinaus verbessert Sport die sogenannten Exekutivfunktionen. Also jene Funktionen, die unser Verhalten steuern und regulieren. Ein Beispiel ist die Konzentrationsfähigkeit und Aufmerksamkeitssteuerung, die durch Sport verbessert werden kann und sich direkt auf die unterrichtliche Leistungsfähigkeit des Kindes auswirkt. Und Sport trainiert genauso die eigene Impulskontrolle. Ebenfalls wichtig für den Lernerfolg und das soziale Miteinander im Schulkontext.
Verschlechterungen in diesen Bereichen im Zusammenhang mit dem Bewegungsmangel in Shutdown-Phasen konnten bereits in verschiedenen nationalen und internationalen Studien nachgewiesen werden.
Wie kann sich Bewegungsmangel im Kindesalter auf das künftige Leben als Erwachsene auswirken?
Das Kindes- und Jugendalter ist geprägt von einer besonders hohen Neuroplastizität. Das bedeutet auch, dass sich Erfahrungen, die in dieser Zeit gemacht werden, besonders deutlich und nachhaltig im Gehirn abbilden.
Auch Verhaltensmuster entwickeln und verstetigen sich in Kindheit und Jugend. Wir wissen, dass gerade das spätere Bewegungsverhalten als Erwachsener maßgeblich von den Bewegungserfahrungen in Kindheit und Jugend geprägt ist. Lange Phasen des Bewegungsmangels in dieser besonders sensiblen Lebensphase können erheblichen Einfluss auf den langfristigen, gesundheitsbezogenen Lebensstil haben.
Sollten Sport und Bewegung damit nicht noch viel stärker in unserem Gesundheitssystem verankert werden?
Ja, Sport und Bewegung haben einen hohen therapeutischen Wert und gehören bereits in vielen medizinischen Einrichtungen zum therapeutischen Alltag.
Noch wichtiger für die meisten Kinder und Jugendlichen ist aber die Prävention von Erkrankungen. Hier spielt der Sport in Schule und Verein eine zentrale Rolle. Gerade jetzt ist es wichtig, dafür zu sorgen, dass die Kinder in den Monaten der Kontaktbeschränkung aber auch danach Sport treiben. Hier ist eine Entwicklung pandemiekonformer Konzepte dringend erforderlich.
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