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INTERVIEW/19.07.2024

„Der Mangel an Freiheit in meinem Leben trieb mich in die Berge”

Nasim Eshqi
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Nasim Eshqi scheut weder Risiko noch Herausforderung, ob als Profikletterin oder Menschenrechtsaktivistin. Routen, die sie eröffnet, sowie ihre anderen Projekte sind Teil einer laufenden Konversation über Frauen- und Kinderrechte, Freiheit und Gemeinschaft. Mit uns spricht sie über das Erreichen hoher Schwierigkeitsgrade und noch höherer Ziele - mit dem Sport als persönlichen Zufluchtsort und Katalysator für Veränderung.

Wie Nasim Eshqi die Berge sprechen lässt

Nasim, was machst du gerade und was sind deine Pläne für die nächsten Wochen?

Zurzeit klettere ich natürlich viel und baue mir nebenbei ein neues Leben auf. Zum Beispiel muss ich meinen Führerschein neu machen, da ich meinen iranischen Führerschein nur als Touristin und nicht als Ansässige in Italien nutzen kann. Solche Dinge brauchen natürlich Zeit. Und dann versuche ich auch, meine Botschaft für Freiheit durch mein Klettern zu verbreiten.

Sieh dir das Interview als Video an:

Wie fühlt es sich an, weit weg von Zuhause zu leben?

Mein Zuhause waren immer die Berge, das ist für mich das Wichtigste. Ich habe eine starke  Verbindung zur Natur, zu den Bergen und zu mir selbst - das hilft mir sehr, international und global zu bleiben. Wir alle haben Erinnerungen und Nostalgie an das Land, in dem wir geboren wurden. Aber das ist nicht alles für mich. Es ist nicht der einzige Teil meines Lebens. Es gibt viele verschiedene Aspekte, die mein Leben ausmachen. Ich glaube an Kommunikation und daran, voranzukommen, nicht nur einer Gesellschaft oder Community anzugehören, sondern Teil einer einzigartigen Sache zu sein, nämlich der Menschheit. Das gibt mir die Energie, aufzustehen und nicht deprimiert zu sein oder mich niedergeschlagen zu fühlen.

Italien ist ein Land voller Sonnenschein, und das hilft sehr. Die Menschen sind freundlich, obwohl es auch Aspekte gibt, die mein Leben wirklich viel schwieriger machen. Aber das Leben ist eine Herausforderung und ohne Herausforderungen wird es sehr langweilig.

Wie unterscheidet sich das Klettern in Europa von dem in Iran?

Der Unterschied zwischen Ländern im Westen und im Nahen Osten ist, dass die Felsen dort nicht überall erschlossen sind. Ich sehe es als ein großes Privileg, neue Routen an Orten zu eröffnen, wo es nötig ist. Nicht nur, um meinen Namen darauf zu haben, weil ich eine neue Route eröffnet habe. Hier in Europa habe ich nicht das Gefühl, dass es notwendig ist, neue Routen zu eröffnen, weil es schon so viele gibt. Trotzdem mag ich es, es ist meine liebste Beschäftigung, weil man einen neuen Weg entdeckt. Ich meine, wir sind Menschen, wir machen das gerne. Ich mag es, eine neue Route zu eröffnen, die es anderen ermöglicht, auf dieselbe Weise zu klettern. Genauso, wie es die ältere Generation uns geschenkt hat. Und ich möchte das der nächsten Generation weitergeben. Aber es muss für mich innerlich Sinn machen.

Kletterin Nasim Eshqi seilt sich von Felswand ab
Nasim liebt es neue Kletterrouten zu entdecken und weiterzugeben
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Es gibt noch andere Unterschiede: Die Kletter-Community im Iran ist sehr klein, in Europa ist sie viel größer und finanziell besser gestellt. Es gibt auch weniger Kultur rund um den Sport im Iran oder im Nahen Osten.

Ein weiterer interessanter Aspekt ist, dass ich im Iran immer in die Berge gehen musste, um meine Freiheit auszudrücken und mich so zu kleiden, wie ich wollte. Hier brauche ich das nicht, ich kann mich frei in der Öffentlichkeit bewegen. Natürlich ist man nicht völlig frei, aber man hat mehr Entscheidungsfreiheit. Die Kleidung von Frauen wird immer noch stark von Männern und der Gesellschaft als Ganzes kritisch beäugt, selbst in Europa. Aber natürlich ist es viel besser als in utilitaristischen Ländern, in denen über jedes einzelne Kleidungsstück oder das Bedecken der Haare entschieden wird.

Wie viel Kontakt hast du noch zur Kletter-Community im Iran?

Das Internet ist außerdem nicht sehr offen, also ist es nicht besonders einfach, in Kontakt zu bleiben. Ich stehe aber in Kontakt mit einigen meiner engen Freunde in der Klettergemeinschaft, daher bin ich über das, was dort passiert, informiert. Was ich getan habe und tue, hat eine Auswirkung auf die Gesellschaft dort, entsprechend gibt es Angst. Einige Leute haben also das Gefühl, dass es gefährlich ist, Nachrichten an mich zu senden.

Trotzdem wollte, selbst als ich im Iran war, wollte nicht jeder mit mir in Kontakt stehen, weil ich immer sehr direkt war. Ich kletterte im Sport-BH, wenn ich in den Bergen war. Viele Kletterer, sogar Frauen, fanden das nicht korrekt und gaben das an die Polizei weiter. Die Sittenpolizei war jedoch nicht immer fit genug, um zum Felsen zu kommen, was also mein Vorteil war (lacht).

Die Profikletterin gilt als Kämpferin im Klettersport und trotz konservativer Kritik
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Nicht alle Kletterer waren gegen mich, viele unterstützten mich auch, aber ein sehr konservativer Mann genügt, um viel zu zerstören. Und wenn sie zu mir kamen und sagten, dass ich mich anders kleiden müsse, war das beängstigend. Zum Glück bin ich schon mutig zur Welt gekommen, wurde als Kämpferin geboren. Auch wenn ich innerlich Angst hatte, hielt ich immer stand und erinnerte sie daran, dass es nicht ihre Angelegenheit sei und sie ihre Augen schließen sollten. Schaut nicht mich an, sondern klettert!

Welche Rolle spielt der Klettersport für dich und deine Botschaft?

Er gibt mir viele Verbindungen, da wir alle Teil einer Kletter- und Sportfamilie sind. Wir haben nicht viele Kletterer aus dem Iran, die frei sprechen können. Ich schätze diese Gelegenheit sehr, offen und direkt meine Meinung zu äußern, auch wenn Marken das manchmal nicht mögen. Es gibt mir Kraft und erlaubt mir, mein Leben zur Botschaft für Freiheit zu machen. Ich bin nur eine kleine Person, aber ich kann trotzdem einen großen Einfluss haben.

Als iranische Frau, die weiß, was im Iran passiert und das Talent und Wissen hat, neue Routen zu eröffnen, hatte ich die Idee, die Namen der Routen den Menschenrechtsbewegungen zu widmen. Auf diese Weise können wir Menschenrechte und Freiheit in den Bergen widerhallen lassen. Hoffentlich kann ich andere dadurch inspirieren. Wir müssen nicht schweigen.

Nasim setzt sich mit ihrer Stimme für Menschenrechte und Freiheit ein
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Wir müssen uns auch nicht nur auf ein Thema konzentrieren, zum Beispiel Klimawandel. Das ist natürlich ein wichtiges Thema, aber eine andere Gruppe von Kletternden kann ein anderes Thema haben, über das sie sprechen. 

Ich fand es sehr schwierig, Sportler dazu zu bringen, sich für Menschenrechte einzusetzen. Natürlich wollen sie sich auf ihren Sport konzentrieren, aber mir geht es ja genauso: Ich möchte den härtesten Schwierigkeitsgrad der Welt klettern und auf dem höchsten Berg stehen, zum Beispiel. Aber dann fehlt etwas, ein leerer Teil, der für mich gefüllt werden muss, um vollständig zu sein. Andere Sportarten haben in der Vergangenheit über sozialen Einfluss und soziale Bewegungen gesprochen. Sie haben mich inspiriert, dasselbe zu tun. Bisher sehr erfolgreich, weil ich dieses Thema vielen anderen Menschen nähergebracht habe.

Sports for Impact Talk auf der OutDoor 2024: Fritz Lietsch, Kimi Schreiber, Chase Tucker & Nasim Eshqi
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Die Themen, über die du sprichst, sind ziemlich hart und trotz deines Erfolgs ist es manchmal sicherlich ein mühsamer Kampf. Wie vermeidest du es, auszubrennen?

Du hast recht, manchmal bin ich sehr erschöpft. Aber wir Menschen haben auch dieses Talent namens Widerstandsfähigkeit. Und als Iraner haben wir es in unseren Genen. Auch wenn momentan eine Generation diesen Preis zahlen muss, damit wir der nächsten Freiheit geben können. Wenn wir das nicht tun, hört es nie auf. Es kann nur besser werden, weil die neue Generation offener ist. Diese Revolution ist bereits gewonnen.

Wenn das Kämpfen anstrengend wird, flüchte ich in die Natur und erinnere mich daran, dass „dies auch vorbeigehen wird und ich am Ende dem treu geblieben sein werde, woran ich glaube“. Ich komme zum Auftanken auch immer wieder in die Berge zurück. Und wenn ich sie wieder verlasse, habe ich diese Kraft in mir und kann sie zurück in die Gesellschaft bringen.

21st Century Adventurer Award für alle Frauen

Du hast den 21st Century Adventurer Award für deine Leistungen im Klettern, aber auch für deinen Aktivismus, gewonnen. Was bedeutet das für dich?

Ich fühle mich wirklich geehrt, obwohl ich mich nicht als Gewinnerin dieses Preises sehe. Die Gewinnerinnen dieses Preises sind alle Frauen im Iran und in anderen Ländern, die für Freiheit gekämpft haben und noch kämpfen. Sie geben mir Hoffnung, und ich möchte das Preisgeld nutzen, um eine weitere Route zu eröffnen und sie einer Menschenrechtsbewegung zu widmen.

Wenn wir dabei helfen können, dass Frauen in der Öffentlichkeit ohne Hidschāb stehen können, und auch kleine Mädchen, ist das Freiheit und ein Gefühl, das ihnen niemand mehr nehmen kann. Wir müssen wirklich den Kindern helfen. Dann helfen wir der Gesellschaft als Ganzes und können diesen extremistischen Religionen Einhalt gebieten.

Aber auch Marken können viel tun, um Aktivismus und verschiedene Anliegen zu unterstützen. Es gibt Sponsoren, die sagen, dass es heutzutage zu viel Aktivismus gibt und sie sich auf die Leistung ihrer Athleten konzentrieren wollen. Aber ich denke, wenn ich einen Sponsor verliere, ist es das wert. Wir müssen an die Grenzen gehen und diese auch pushen, das sollte belohnt werden. Ich denke, dann ist es auch für Marken lohnend, solche Menschen als ihre Athleten zu haben.

Letzte Frage: Was wäre deine Botschaft an die Sportgemeinschaft?

Mein Appell an die gesamte Berg- und Sportgemeinschaft wäre, dass, wenn ihr wirklich an Freiheit glaubt, ihr sie auch leben solltet. Wenn ihr das Privileg habt, zu sprechen, versucht, andere mit einzubeziehen. Wir sollten alle unsere Stimme erheben. Frauen im Iran oder Afghanistan oder an anderen Orten zu helfen, bedeutet genau das. Sie brauchen keine Spenden. Frauen im Iran brauchen kein Geld. Sie brauchen Freiheit. Und das erreichen wir, wenn Frauen, und auch Männer im Westen, ihre Freiheit nutzen, um zu sprechen, denn wir sind alle miteinander verbunden.

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