„Die Zukunft gehört dem Fahrrad.“ Bernhard Lange, Präsidiumsmitglied des deutschen Zweirad-Industrie-Verbandes, setzt große Hoffnungen auf die nächsten Jahre. Fahrrad fahren boomt wie noch nie – und das nicht nur in Deutschland, sondern weltweit. Aber das führt zu der paradoxen Situation, dass die Lage im Fahrradhandel derzeit so angespannt ist wie wahrscheinlich noch nie.
Es gibt schlicht und ergreifend zu wenig Fahrräder auf dem Markt. Die Lager der Hersteller sind leergefegt, Händler berichten von einem fast unkontrollierbaren Ansturm. Wer dieses Jahr noch ein Fahrrad kaufen will, muss sich beeilen – und braucht jetzt schon Glück sowie wahrscheinlich jede Menge Geduld. Selbst wenn sich die Corona-Lage durch den Impffortschritt in den nächsten Monaten entspannen sollte – auf dem Fahrradmarkt ist von Erholung noch lange keine Spur.
Jedes Einzelteil ein begehrtes Gut: Wer früher mal schnell eine Kette brauchte, ging zum Händler um die Ecke oder bestellte sie online, dann lag sie am nächsten Tag im Briefkasten. Heute dagegen erhält man auf der Website von Rose die Info, dass eine Shimano-XT-Kette in 23 Wochen geliefert wird. „Der ganze Markt ist geplündert“, beschreibt der Geschäftsführer von Rose Bikes, Thorsten Heckrath-Rose, die Lage. Ersatzteile und Kompletträder seien gleichermaßen betroffen. Deutlich länger als sonst seien die Lieferzeiten derzeit. Wer heute ein Rad bestellt, hat Glück, wenn er es im nächsten Vierteljahr bekommt.
„Ich kann nicht ausschließen, dass wir im Juni komplett ausverkauft sind“, sagt Peter Litterst, der mit LinkRadQuadrat in Gengenbach im Schwarzwald einen der größten Radläden der Region führt und sowohl stationär als auch online Räder vertreibt. „Die Nachfrage ist so deutlich höher als das Angebot“, berichtet er. „Wenn Ware bei uns eintrifft, ist sie noch am selben Tag wieder verkauft – und das in allen Segmenten und Preisbereichen.“ Haider Knall dagegen, der mit Haico einen auf High-End-Costumized-Bikes spezialisierten Laden in der Nähe von Tübingen hat, berichtet von ganz anderen Sorgen: „Ich kann oft wochenlang Räder nicht verkaufen, weil ich noch auf ein einziges Teil warten muss.“
„Corona hat eine Kette von Problemen ausgelöst“, betreibt Wolfgang Renner, Chef der Radmarken Centurion und Merida in Deutschland, Ursachenforschung. In einem Klima von Verunsicherung hätten viele, vor allem kleine Händler, ihre Vororder storniert, nachdem der erste Lockdown im März 2020 kam. Damals mussten Fahrradhändler und -werkstätten zunächst vollständig schließen.
Zuvor hatte das Virus in Asien, wo nahezu das komplette produzierende Fahrradgewerbe ansässig ist, Produktionsabläufe und Lieferketten massiv durcheinandergewirbelt. „Diese Auswirkungen bekommen wir heute noch zu spüren“, erklärt Renner. „Wir haben einen gigantischen Rückstau – und das bei massiv gestiegener Nachfrage.“
Robert Margevicius, Executive Vice President von Specialized, fordert deshalb, dass Komponentenhersteller „so schnell wie möglich“ in die Erweiterung ihrer Kapazitäten investieren müssen – zumal er nicht glaubt, dass sich die derzeitige angespannte Lage schnell ändern wird. Thorsten Heckrath-Rose will darüber hinaus „die Abhängigkeit von asiatischen Lieferketten reduzieren“. Dazu sei es notwendig, dass sich die großen Hersteller in Europa gemeinsam über Alternativen – auch in Bezug auf Nachhaltigkeit – Gedanken machen: „Nur so gelangen wir langfristig in eine bessere Situation“, sagt Heckrath-Rose.
Weil dem Fahrrad die Zukunft gehört, scheint beides dringend geboten – was allerdings nicht hilft, die akuten Probleme zu beheben. Alle Experten sind sich einig, dass Fahrräder und Ersatzteile auch 2022 noch Mangelware bleiben werden und sich die Marktsituation frühestens ab der Saison 2023 signifikant entspannen wird. Die gute Nachricht ist: Noch sind Fahrräder in den Läden – wenn auch nicht in jeder Ausstattung und in jeder Größe.
Wer sich derzeit unbedingt ein Rad kaufen will, sollte also sofort zupacken, wenn sich eine passende Gelegenheit ergibt. „Alle, die zögern oder auf Rabatte spekulieren, werden den Kürzeren ziehen“, prophezeit Peter Litterst von LinkRadQuadrat. Mehr Weitblick als Spontanität brauchen dagegen diejenigen, die ihr altes Rad noch ein Jahr weiterfahren wollen. Bernhard Lange, der auch geschäftsführender Gesellschafter des deutschen Shimano-Importeurs ist, empfiehlt: „Eine Kette, ein Paar Reifen und neue Bremsbeläge zu Hause parat zu haben, ist unabhängig von der aktuellen Situation nie ein Fehler.“
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