Nervige Kollegen, Frust in der Beziehung, quengelnde Kinder, Termindruck, Ebbe auf dem Konto, ständige Erreichbarkeit – all das kann uns fertig machen. „Ich bin im Stress“ schallt es einem unisono entgegen.
Egal ob Mutter oder Manager, Kassierer oder Krankenschwester, Börsenmakler oder Bauarbeiter, arm oder reich – alle klagen über zu viel Druck, zu viel Hektik, zu viel Belastung. „Ich bin im Stress“ – das klingt für unsere Ohren wie eine zu oft wiederholte Phrase und nicht wie ein Hilferuf.
Dabei hat die Weltgesundheitsorganisation Stress zu einem der größten Gesundheitsrisiken des 21. Jahrhunderts erklärt – noch vor den Risikofaktoren Rauchen, fettes Essen und Bewegungsmangel. Ausgelaugt und ausgebrannt fühlen sich heute nicht nur Jammerlappen und Sensibelchen, Stress ist längst eine Volkskrankheit. Leider beschäftigt man sich oft erst mit dem Thema der Stressbewältigung, sobald der Stress schon ausgebrochen ist. Dabei sollte Stress bereits mit Stressprävention vorgebeugt werden.
In Deutschland zum Beispiel empfinden 70 Prozent der Berufstätigen ihr Leben als stressig, jeder fünfte leidet unter Dauerdruck. Besonders gebeutelt ist die Generation zwischen Mitte 30 und 40: In der Rushhour des Lebens fühlen sich 80 Prozent gestresst, so eine Studie der deutschen Techniker Krankenkasse.
Jede Woche erscheint mindestens ein neues Buch zum Thema Stress, glaubt man den Amazon-Listen. Das Spektrum der Titel reicht von „Bin ich Psycho … oder geht das von alleine weg?“ hin zu „Stressbewältigung für Kinder und Jugendliche“ oder „Timeout statt Burnout“.
Für jede Situation und Lebenslage findet man den passenden Ratgeber: Stress beim Sex, im Stau, beim Sport, in der Ehe, im Büro oder in der Freizeit.
Doch woher kommt der Begriff? Einer der Pioniere der Stressforschung, Hans Selye, machte ihn 1936 populär. Der österreichisch-kanadische Mediziner fand heraus, dass Mensch und Tier über ein biologisches (biochemisches) Programm verfügen, das bei jedweder Form von Gefahr spontan abläuft.
Dieses Reaktionsmuster nannte er Stress (englisch: Spannung, Druck) und schenkte so „allen Sprachen ein neues Wort“. Schockphase, Widerstandsphase und Erschöpfungsphase – diese Etappen durchläuft laut Selye jeder Mensch, der ungewöhnlichen Herausforderungen gegenübersteht: „Stress ist die Würze des Lebens.“
Schon vor Selye hatte auch der Amerikaner Walter Bradford Cannon entdeckt, dass der Körper mit Stress reagiert, wenn er aus dem Gleichgewicht gerät. Er nannte das Notfallprogramm indes nicht Stress, sondern Fight-or-Flight-(Kampf-oder-Flucht-)Reaktion.
Diese Stresssysteme sind uraltes Erbe. Früher bedeutete Stress eine körperliche Bedrohung. Wenn der Säbelzahntiger knurrte, war blitzschnelles Handeln gefragt. Bei Stress reagieren die Körpersysteme wie elektrisiert: Sie setzen Energie frei und versorgen die Muskeln mit Zucker.
Das Herz schlägt schneller, Blutdruck und Atemfrequenz klettern in die Höhe, damit der Körper mehr Sauerstoff umschlägt. Das gründliche, aber langsam arbeitende Großhirn gibt Macht an das Stammhirn ab. Dies trifft nun die Entscheidungen, allerdings schematischer und mit einer höheren Fehlerquote.
Funktionen, die in der lebensbedrohlichen Situation nicht gebraucht werden, werden unterdrückt: Verdauung, Sexualtrieb und das Immunsystem. Parallel fluten die Stresshormone Adrenalin, Noradrenalin und Cortisol den Körper.
Sie machen unempfindlich gegen Schmerzen, die Sinne sind hellwach. Nicht nur wenn ein Rudel Säbelzahntiger aus dem Gebüsch springt, hat sich das System bewährt. Heute kann es auch noch helfen, wenn man aus einem brennenden Haus flieht. Die nachhaltigen Gesundheitsfolgen bei mangelnder Stressbewältigung können dramatisch sein.
Gelegentlich ist Stress gut und hilfreich. Das Problem ist nur: Auch wenn es gar nicht um Leben und Tod geht, wird heute oft eine Stresswelle nach der anderen ausgelöst. Stress ist nicht mehr nur an eine kurze Episode geknüpft, auf die Erschöpfung oder Entspannung folgen, sondern er ist zum Dauerzustand geworden.
Der Steinzeitmensch, der sich mit einem Sprung auf den Baum vorm Tiger retten konnte, war bestimmt besser dran als sein Kollege, der entspannt weiter durch den Wald trottete. So gut das Stresskonzept Auge im Auge mit dem Tiger funktionierte, so wenig taugt es, um mit dem dominanten Chef im Büro klarzukommen, mit dem Frust in der Beziehung oder den Folgen der elektronisch vernetzten Arbeitswelt.
Hier sind kluge Lösungen und Strategien gefragt, nicht die Aktivierung von sofortigem Kampf- oder Fluchtverhalten und fixe Entscheidungen aus dem Stammhirn.
Mehr noch – die dauernde Alarmbereitschaft des Körpers wirkt wie ein schleichendes Gift und „kann viele schädliche Auswirkungen haben“, sagt Günter Stalla, Neuroendokrinologe vom Max-Planck-Institut für Psychiatrie in München, „etwa für das Immunsystem, indem die Aktivität der Killerzellen abnimmt und Krankheitserregern Tür und Tor geöffnet werden.“
Chronischer Stress kann zu Bluthochdruck, Tinnitus, Schlafstörungen, Magen-Darm-Problemen, Allergien, Diabetes oder Depressionen führen, um nur einige Beispiele zu nennen.
Schließlich wird die freigesetzte Energie nicht wie einst bei der Flucht der Urmenschen in Bewegung umgesetzt, sondern sie verbleibt im Körper. Die biochemischen Systeme sind alarmiert, werden aber nicht abreagiert.
Aufgrund der vermehrten Ausschüttung von Stresshormonen wird die Produktion anderer Hormone unterdrückt. „Dadurch nimmt die Fettmasse im Körper zu und die Muskelmasse ab. Auch die Libido kann leiden“, erklärt Stalla.
„Zusätzlich lassen zu viele Stresshormone Nervenzellen absterben und Hirnareale schrumpfen. Neuere Studien zeigen etwa, dass die durch Stress verursachten Erkrankungen das Risiko für eine spätere Alzheimer-Erkrankung erhöhen.“
Selbst alltäglicher Stress kann bis zu zehn Jahre später noch Angstzustände und Stimmungsschwankungen auslösen und nicht nur „den aktuellen Moment ruinieren“. Das besagt eine Studie der University of California, Irvine.
Entscheidend sei dabei nicht die Fülle der täglichen Stressfaktoren, sondern die Reaktion darauf: „Welche Haltung wir einnehmen, ob uns Stress zum Beispiel sehr ängstlich oder auch traurig macht, das ist langfristig entscheidend für unsere psychische Gesundheit“, meint Studienleiterin Susan Charles.
Wer lerne, Stress als Herausforderung zu betrachten und nicht als Bedrohung, könne sich effektiver gegen dessen negative Folgen schützen.
Schlimmstenfalls aber geht irgendwann gar nichts mehr. Der Stressgeplagte fühlt sich leer, müde, antriebs- und kraftlos, regelrecht ausgebrannt. Die totale Erschöpfung – ein Zustand, der als Burn-out bezeichnet wird – betrifft weltweit immer mehr Menschen.
Allein in Deutschland sind von 2004 bis 2011 die Krankheitstage wegen Burn-out um das 18-Fache gestiegen. Nach Muskel- und Skeletterkrankungen sind psychische Probleme heute der zweitwichtigste Grund für Krankmeldungen von Pflichtversicherten, so der Bundesverband der Betriebskrankenkassen.
Gehen US-Amerikaner zum Arzt, hat in 60 Prozent der Fälle Stress die gesundheitlichen Probleme ausgelöst. Der volkswirtschaftliche Schaden ist immens. Nicht zuletzt weil seelische Erkrankungen die mit Abstand längsten Ausfallzeiten nach sich ziehen.
Kritische Lebensereignisse („Life Events“) wie Unfall oder Krankheit, ein Umzug, der Tod des Partners oder auch freudige Ereignisse wie eine Hochzeit, ein Lottogewinn oder die Geburt eines Kindes können stressen, keine Frage.
Schon in den Sechzigern machten die amerikanischen Psychiater Richard Rahe und Thomas Holmes etliche dieser Ereignisse („Major Life Events“) als sogenannte Stressoren aus und billigten ihnen in einer Skala die meisten Punkte zu. Doch in der Regel sind diese Ereignisse selten.
Die immer wiederkehrenden Alltagsbelastungen, die „Minor Life Events“, sind viel problematischer: Termindruck, zu wenig Schlaf, Informationsüberflutung, dauerndes Grübeln, Konflikte mit den heranwachsenden Kindern, ständige Unterbrechungen bei der Arbeit, fehlendes positives Feedback, unklare Zielvorgaben oder Dauerärger mit dem Vermieter.
Viele Forschungen belegen, dass gerade diese Belastungen in ihrer Summe und Dauer problematisch sind. Sie sind wie eine nervige Hintergrundmusik, die durchgängig für Spannung sorgt. „Chronischer Stress ist die Folge lang andauernder Belastungsspitzen über Tage, Wochen oder gar Jahre eines Funktionieren-Müssens in einer modernen Gesellschaft“, bestätigt auch Stalla.
Ein Stressor indes ist nur ein Stressor, wenn er faktisch Stress auslöst. Stress entsteht im Kopf. Ein Beispiel: Lebt jemand in der Nähe eines Flughafens, findet er den Lärm wahrscheinlich unerträglich und schläft meist schlecht.
Wer gleich in den Urlaub fliegt, für den hört sich der Lärm ganz anders an. Die objektiv messbaren Dezibel wirken stärker auf Körper und Psyche, wenn der Lärm negativ erlebt wird. Auch auf Herausforderungen im Beruf reagiert jeder anders: Während der eine sich über die Chance freut, quälen den anderen Versagensängste.
Was den einen in Rage versetzt, entlockt dem anderen ein spöttisches Lächeln. Entscheidend für die Entstehung von Stress ist, wie man aufgrund von Erfahrungen und Einstellungen ein Ereignis bewertet.
Es gibt Denkmuster, die Stress verschärfen oder gar auslösen. Psychiater wie der US-Amerikaner Aaron T. Beck haben diese typischen Denkfehler klassifiziert. Wenn man etwa alles Negative auf sich bezieht, den mürrischen Nachbarn, der nicht grüßt, oder die schlechte Laune der Kollegin, neigt man zum „Personalisieren“.
Wer immer mit dem Schlimmsten rechnet, auch wenn es gar keine Anzeichen dafür gibt, neigt zum „Katastrophisieren“, und wer nur in Extremen (gut – böse, niemals – immer) denkt, zum „Polarisieren“.
Denkfehler wie diese dürften den meisten Menschen vertraut sein. Manchmal helfen sie, aber in den meisten Fällen produzieren sie mehr Stress, weil sie die Realität ausblenden. Man konzentriert sich auf die Probleme statt auf Lösungen. Die kann man dann gar nicht mehr finden, weil der Tunnelblick die Wahrnehmung einschränkt.
Trotzdem gibt es Menschen, die freudig 60-Stunden-Wochen abreißen, große und kleine Krisen mit Bravour meistern und anscheinend immun gegen Stress und Hektik sind. Andere indes geraten schon bei einem falschen Satz mächtig unter Druck und grübeln tagelang darüber nach.
Forscher vermuten, dass das an der unterschiedlich ausgeprägten Fähigkeit zur Resilienz, der psychischen Widerstandskraft, liegt. Einfluss darauf haben nicht nur Persönlichkeit und eine positive Lebenseinstellung, sondern auch Umwelterfahrungen und Gene.
Die Grundlagen werden zwar schon von Kindesbeinen an entwickelt, schreibt die Autorin Christina Berndt. Resilienz aber lasse sich auch im Erwachsenenalter noch trainieren.
Doch womit kann man Stress abbauen? Die perfekte Strategie gibt es nicht. Dem einen hilft es, im Alltag achtsamer mit sich umzugehen, dem anderen, mit Yoga zu entspannen, und dem dritten mehr Bewegung.
Die Doppelbelastung durch Familie und Beruf sollte man anders angehen als Konflikte mit dem Partner oder Angst um den Arbeitsplatz. Die richtige Coping-Strategie (to cope with – eine schwierige Situation bewältigen) hängt von vielen Faktoren ab: Was für ein Stresstyp bin ich? Wie lang dauert der Stress? Kann ich die Situation überhaupt verändern? Welche Lebensbereiche sind betroffen? Auch gibt es Strategien, die zusätzlich Stress produzieren.
Dazu gehören etwa das exzessive Ausleben negativer Gefühle, die Betäubung mit Alkohol und Medikamenten oder das Verleugnen und Verdrängen.
Bei akutem Stress gilt: nicht aus dem Affekt reagieren, sondern erst mal tief durchatmen, bis zehn zählen, runterkommen, abkühlen. Jetzt helfen ein paar nüchterne Fragen, um die Situation zu bewerten. Klingt profan, ist aber effektiv.
Steht überhaupt etwas für mich auf dem Spiel? Werde ich mich in ein paar Jahren noch daran erinnern? Falls sich die Situation nicht beeinflussen oder verändern lässt, sollte man versuchen, sie anzunehmen: Ja, das ist jetzt Stress. Ich versuche, das Beste daraus zu machen und mich der Herausforderung zu stellen. Wir wünschen Ihnen viel Erfolg bei der Stressbewältigung.
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