Gerne erinnern wir uns zurück an die European Championships im August 2022. Gina Lückenkemper sprintet in 10,99 Sekunden zum Europameister-Titel. Wer damals im Münchener Olympiastadion dabei gewesen ist, darf sich glücklich schätzen. Es war ein besonderes Erlebnis und ein phänomenaler Lauf der deutschen Leichtathletik-Queen. Mit den letzten acht Schritten holt Lückenkemper gut 1,5 Meter auf die bis dahin in Führung liegende Mujinga Kambundji aus der Schweiz auf und zieht im Fotofinish schließlich an ihr vorbei. Vor heimischer Kulisse hat Gina Lückenkemper auf den Punkt geliefert und Nervenstärke bewiesen. Was umgangssprachlich eigentlich einen mentalen Gemütszustand meint, kann bei der 26-Jährigen allerdings auch anders interpretiert werden. Gina praktiziert seit vielen Jahren Neuroathletik, beigebracht hat ihr das Lars Lienhard.
Sportwissenschaftler Lienhard beschäftigt sich seit über zehn Jahren intensiv mit den Zusammenhängen und Wechselwirkungen zwischen Gehirn und Bewegungen. Das Ergebnis ist eine spezifische Form des Gehirn- und Nerventrainings. Neuroathletik nennt er das. Lienhard gilt hierzulande als Pionier auf diesem Gebiet. Immer mehr Sportlerinnen und Sportler vertrauen ihm, etwa Tennisass Alexander Zverev, Fußballer Serge Gnabry oder eben Gina Lückenkemper.
Den Ursprung hat die Neuroathletik in den USA. Dort ist das Thema schon seit einigen Jahrzehnten auf der Agenda. Richtig ins Rollen gebracht hat es dort Anfang der 2000er Jahre Dr. Eric Cobb. Der US-Chiropraktiker war der Erste, der die Erkenntnisse der funktionellen Neurologie in das klassische Athletiktraining integrierte und so neue Trainingsmethoden entwickelte. Zahlreiche US-Leichtathleten*innen vertrauten fortan seiner Methode. Auch der NBA-Star LeBron James hatte während seiner Zeit bei den Miami Heat (2010-2014) einen Neuro-Doc an seiner Seite. Sein Wissen gibt Eric Cobb auch in Ausbildungen weiter, einer seiner ersten Schüler war Lars Lienhard. „Laut klassischer Bewegungslehre ist Kraft ein körperliches Attribut und dessen zentralnervöse Steuerung spielt nur eine untergeordnete Rolle. Das stimmt aber nicht, denn Muskeln führen nur die Bewegungsmuster aus, die das Gehirn ihnen aufträgt“, so Lienhard. Deswegen liegt der zentrale Inhalt der Neuroathletik in der Betrachtung des Gehirns. Der Ansatz: Wie kann die Steuerung im Gehirn gezielt verändert oder beeinflusst werden – beispielsweise durch ausreichend hochwertige Informationen aus den Sinnesorganen? Lienhard will wissen, wo in der „Software“ des Gehirns das Problem liegt und wie ein individuelles Update aussehen kann. Aber funktioniert das tatsächlich?
Er ist der festen Überzeugung, dass Neuroathletiktraining ein echter Gamechanger sein könnte, denn es bietet eine neue Herangehensweise, um festgefahrene Plateaus im Spitzensport zu überwinden. Oft wird versucht, durch Änderung der Trainingsmethoden wie Krafttraining das Plateau zu durchbrechen. Doch manchmal reicht es, durch gezielte sensorische Informationen das Gehirn zu aktivieren, um wieder Fortschritte zu machen. Dies kann dazu führen, dass bisher blockierte motorische Prozesse im Gehirn angestoßen werden, was die Bewegung leichter und effizienter macht. Der Schlüssel liegt dabei in der Verbesserung der Durchblutung im Gehirn, was dazu führt, dass das Gehirn die Bewegung besser anpassen und optimieren kann – und das ist oft der Wendepunkt, der einen echten Durchbruch im Training bewirken kann.
Mehr Insights gefällig? Dann besuche unbedingt den Vortrag von Lars Lienhard auf dem German Trainers’ Summit! Lars wird eine neue Perspektive auf die Anforderungsprofile im Sport durch Neuroathletiktraining bieten. Er erklärt, wie das Gehirn die Bewegungen der Athlet*innen steuert und welche Sinnesinformationen sowie neuroanatomischen Prozesse dabei eine Rolle spielen. Anhand praktischer Beispiele zeigt er, wie diese Erkenntnisse in der Praxis angewendet werden können, um die Leistungsfähigkeit von Sportler*innen zu optimieren. Save the Date!
🕙 11:00-11:30 Uhr
📍 ICM München, Saal 14a
An der Deutschen Sporthochschule Köln forscht Dr. Vera Abeln am Institut für Bewegungs- und Neurowissenschaft, wie sich Bewegung auf das Gehirn auswirkt. Primär ist Dr. Abeln in ihrer Forschung daran interessiert, wie Bewegung genutzt werden kann, um das Gehirn positiv zu beeinflussen. Auch die negativen Einflüsse auf unser Gehirn aufgrund mangelnder Bewegung sind Aspekte ihrer Forschung. „Das Gehirn ist sehr schlau. Wenn etwas verstärkt gebraucht wird oder an Bedeutung gewinnt, passt sich unser Gehirn langfristig an. Plastische Veränderungen führen dann dazu, dass Prozesse ökonomischer oder effektiver ablaufen“, so die Sportwissenschaftlerin. Auch Nerven lassen sich trainieren. „Es können neue Nervenzellen oder neuronale Verknüpfungen zwischen Zellen entstehen, die sogenannte Neurogenese. Auch kann die Übertragungsgeschwindigkeit oder Menge von Botenstoffen, die Signale übertragen, durch häufiges Training optimiert werden“, so Dr. Abeln.
Wie genau eine Übung für Neuroatheltiktraining aussehen kann, beschreibt Lienhard folgendermaßen: Oft weicht das Training von der typischen Vorstellung ab, die viele von Athletiktraining haben, da es eher auf die Aktivierung der Sinne als auf klassische körperliche Bewegungsabläufe fokussiert ist. Im neurozentrierten Training werden somit Übungen entwickelt, die auf Sinneswahrnehmungen aus der Außenwelt, dem Körper und inneren Prozessen basieren. Die Übungen können daher manchmal etwas merkwürdig aussehen, da zum Beispiel Gelenke gedehnt oder gedreht werden, während der Kopf in eine bestimmte Richtung gehalten wird. Ziel ist es, verschiedene Sinnesorgane zu aktivieren, wie etwa das Gleichgewichtssystem oder die Augen.
Auf die Frage, ob Neuroathletik nur auf bestimmte Sportarten anwendbar ist, erklärt Lienhard, dass dies keineswegs der Fall sei. Er betont, dass sich Neuroathletik damit beschäftigt, wie das Gehirn Bewegung reguliert und optimiert, unabhängig von der Sportart. Denn sowohl bei den verschiedenen Disziplinen der Olympischen Spiele, als auch im Fußball – die Regulierung der Bewegung erfolgt immer durch das Gehirn und wird dahingehend in den Körper übertragen. Mittlerweile wächst Neuroathletik stetig und ist bereits in vielen Sportarten fest etabliert.
Am eigenen Leib erfahren hat das der ehemalige Fußball-Profi Jan-Ingwer Callsen-Bracker. Der Innenverteidiger war der Erste, der Neuroathletik in der Bundesliga praktiziert hat. Nach dem Mannschaftstraining legte er beim FC Augsburg regelmäßig eine Extra-Session ein. Augentraining, Gleichgewichtsschulung, Nervendehnung. Anfangs erntete er große Skepsis und Augenrollen bei seinen Mitspielern. Später wurden es immer mehr, die gemeinsam mit Callsen-Bracker ihre Augen rollten. „Ich hatte nach einer Verletzung zu Beginn meiner Karriere längere Zeit Kompensationsmuster, die wiederkehrend zu muskulären Problemen geführt haben. Der Kontakt mit neurozentriertem Training war für mich dann ein Wendepunkt. Dadurch bin ich kräftiger, beweglicher und schmerzfrei geworden. Meine Leistungsfähigkeit hat sich aufgrund meiner erhöhten Bewegungsqualität deutlich verbessert“, so Callsen-Bracker. Nach seiner aktiven Karriere ist Callsen-Bracker komplett in das Thema eingetaucht und hat sich auf dem Gebiet der Neuroathletik weitergebildet. Mittlerweile betreut er den Bereich als Experte beim Deutschen Fußball Bund, berät und trainiert die deutschen Nationalteams der A- und U-Mannschaften.
Neuroathletiktraining stützt sich auf Informationen aus verschiedenen Bereichen wie der Sportwissenschaft, Psychologie und Neurologie. Es konzentriert sich besonders auf die Sensomotorik, also wie sensorische Informationen motorische Prozesse steuern. Ein großer Teil der Arbeit basiert auf angewandter Bewegungsneurologie, die neue Erkenntnisse darüber liefert, wie das Gehirn Bewegung verschaltet und welche Aspekte genutzt werden können. Diese Disziplinen ermöglichen es, das Training gezielt zu gestalten und das Verständnis für die motorische Entwicklung und Aneignung von Bewegungen zu erweitern, erklärt Lienhard.
Ergebnisse bzw. Fortschritte durch Neuroathletik zu messen und zu bewerten stellt sich jedoch als schwierig heraus. Die Studienlage ist nahezu nicht vorhanden. Das hängt zum einen damit zusammen, dass der von Lienhard geprägte Begriff noch relativ jung ist. Zum anderen gibt es in der Neuroathletik Aspekte, die in anderen Trainingsformen bereits existieren oder unter anderen Begriffen wie Bewusstseinslenkung, visuelle Aufmerksamkeit oder Antizipationsfähigkeit geführt werden. Dr. Vera Abeln weiß, weshalb die Forschung in diesem Bereich so hinterherhinkt: „Um tatsächlich valide Aussagen über Effekte der Neuroathletik treffen zu können, müsste man sich die Prozesse, die im Gehirn für Veränderungen sorgen, während einer Bewegung anschauen. Mit einem MRT ist dies aufgrund von Bewegungsartefakten beim Sport praktisch nicht, mit EEG nur sehr eingeschränkt möglich. Zusätzlich benötigt man in der Methodik sehr viele Wiederholungen unter nahezu gleichen Bedingungen. Das zusammen betrachtet sind die Gründe, warum es hier derzeit noch nahezu keine valide Datenbasis gibt. Fakt ist aber, dass jedes intensive Üben auch zu plastischen Veränderungen im Gehirn führt und Prozesse optimiert werden. Daher ist grundsätzlich an diesem Konzept nichts falsch.“ Die Frage also, welche belegbaren Effekte Neuroathletik auf Athlet*innen hat, kann also – noch – nicht beantwortet werden.
Neuroathletik findet immer mehr Anwendung in der Rehabilitation und Therapie. Im Profisport geht es häufig um Feinjustierung, das Quäntchen „mehr“ Leistung rausholen, neue Impulse setzen, oder Schmerzen und Problematiken lindern, die aufgrund von Verletzungen entstehen. Solange immer mehr Spitzenathlet*innen von positiven Effekten berichten und sich mehr und mehr Verbände und Vereine der Neuroathletik öffnen, scheint Lars Lienhard mit seinem Konzept nicht falsch zu liegen. Klar ist aber auch: Neuroathletik setzt eine individuelle Anamnese und eine spezifische Empfehlung voraus. Es ist kein Training von der Stange, hier sind Experten und eine intensive, kontinuierliche 1:1 Betreuung unerlässlich. Dr. Vera Abeln kann sich vorstellen, dass es - falsch angewendet - Effekte gibt, in denen Neuroathletik nicht zielführend ist. „Nehmen wir die Angst vor Wiederverletzungen. Die kann zu Spannungen im Muskel führen, die der Bewegung nicht dienlich oder sogar hinderlich ist. In der Neuroathletik geht es dann darum, diese Angstzustände zu behandeln und die Bewusstseinslenkung zu beeinflussen. Ich kann mir aber durchaus vorstellen, dass das auch andersrum funktioniert. Wenn ich mit jemandem ganz bewusst an Informationsaufnahme und Bewertungen von Situationen arbeite, kann man möglicherweise etwas verschlimmern oder wecken, was vorher nicht dagewesen ist“, vermutet Dr. Abeln.
Lienhard fügt zuletzt hinzu, dass es im Neuroathletiktraining vor allem darum geht, dass jeder Trainer seine eigene Herangehensweise hat. Das bedeutet, dass zwei Trainer unterschiedliche Ergebnisse erzielen können – genau wie beim Krafttraining. Die Qualität der Informationen, die man bekommt, spielt dabei eine riesige Rolle, vor allem in einem Bereich, der sich so schnell entwickelt. Es ist wichtig, den Markt zu kennen und zu verstehen, was funktioniert und was nicht.
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