Dass bei der Vergabe großer Sportveranstaltungen wie Fußball-WM oder Olympia praktisch immer Korruption im Spiel ist – wer wüsste das besser als die Fußballfans in Deutschland? Warum die Weltmeisterschaft 2006 „Zu Gast bei Freunden“ war, und welche Rolle „Kaiser“ Franz Beckenbauer dabei gespielt hat, ist bis heute nicht restlos geklärt. Beckenbauer verweist auf „Gedächtnislücken“. Doch bei der gemeinsamen Vergabe der WM 2018 nach Russland und der WM 2022 nach Katar wurden ganz offensichtlich neue Rekorde in Sachen Schmieren und Bestechen aufgestellt. „Erinnert sich noch jemand an den 2. Dezember 2010?“, schreiben die Autoren Bernd-M. Beyer und Dietrich Schulze-Marmeling in ihrem Buch „Boykottiert Katar 2022! Warum wir die FIFA stoppen müssen“ (Verlag Die Werkstatt, 160 Seiten, 12,90 Euro) über das entscheidende Votum des Exekutivkomitees des Fußball-Weltverbandes FIFA. Und weiter: „Es wäre übertrieben zu sagen, das sei der Nine-Eleven des internationalen Fußballs gewesen, aber ein riesiger Schock und eine Zäsur waren es allemal."
Denn an diesem Tag hielt Joseph S. „Sepp“ Blatter, der damalige Präsident der FIFA, einen Zettel in die Höhe, auf dem „Qatar“ stand. Damit war die Weltmeisterschaft 2022 nach Katar vergeben, in einen autoritären, monarchistischen Staat ohne nennenswerte Fußballtradition oder -kultur, in dem Parteien verboten sind, in dem die Scharia die Hauptquelle der Gesetzgebung ist, und in dem Homosexualität mit bis zu fünf Jahren Gefängnis bestraft wird. 14 der 22 Mitglieder des Exekutivkomitees, in dem auch der spätere „Sklaven-Leugner“ Franz Beckenbauer saß (aber keine einzige Frau), stimmten dennoch für Katar. Nur acht entschieden sich für Konkurrent USA. Eigentlich hatte das Gremium sogar 24 Mitglieder – aber zwei durften nicht mehr abstimmen, weil sie schon zuvor als bestechlich enttarnt wurden.
„De facto war es eine kriminelle Vereinigung, die die Turniere an Russland und Katar vergab. Allein schon deshalb hätte man beiden Ländern die WM entziehen und eine neue Entscheidung herbeiführen müssen“, schreiben Beyer und Schulze-Marmeling in ihrem Buch. Nur sechs Monate nach der Entscheidung der FIFA standen dann bereits zehn Mitglieder des Komitees unter dem Verdacht, ihre Stimme verkauft zu haben. Dabei war auch der Einfluss der Politik offenbar enorm. Denn Katar ist weltweit bestens vernetzt und mittlerweile auch in Deutschland, von VW bis zur Deutschen Bank, einer der größten ausländischen Investoren. Unter anderem sollen sich der damalige Bundespräsident Christian Wulff, der spätere Außenminister Sigmar Gabriel sowie der französische Staatspräsident Nicolas Sarkozy für die Austragung der WM 2022 in Katar stark gemacht haben. Darf ein Turnier unter diesen zweifelhaften Umständen vergeben werden? Und darf diese Vergabe nach allen schmutzigen Enthüllungen Bestand haben? Oder sollten die Kritiker aus Sommermärchen-Deutschland hier ganz leise sein?
Der FC Bayern München pflegt seit Jahren exzellente – und oft heftig kritisierte – Kontakte nach Katar. Der Deutsche Meister fliegt regelmäßig ins Winter-Trainingslager in die Hauptstadt Doha. Und auf den Ärmeln der FCB-Trikots findet sich das Logo der staatlichen Fluglinie Qatar Airways als einer der wichtigsten Sponsoren des Vereins. Der langjährige Bayern-Vorstandsvorsitzende Karl-Heinz Rummenigge verteidigte während seiner Amtszeit immer wieder die Partnerschaft mit dem Golfstaat: „Wir beim FC Bayern sind der Meinung, dass man in einem Dialog viel mehr erreicht als in einer permanent kritischen Haltung.“ Bei der Kritik von Moderator Jochen Breyer im ZDF-Sportstudio wies Rummenigge im Februar 2021 auf die „andere Kultur und andere Religion“ in Katar hin. Darauf Breyer unter großem Beifall in den sozialen Medien: „Menschenrechtsverletzungen sind keine Kultur.“
Der ehemalige Münchner Vorstandschef ist dennoch vom Prinzip des „Wandels durch Dialog“ überzeugt. Er meint, die Partner in Katar würden „unsere Überzeugungen kennen, zum Beispiel bei der Frage von Arbeiterrechten. Aber sie werden uns nur zuhören auf der Grundlage von Respekt und Vertrauen“. Mit dieser Position steht er nicht allein da. Selbst die Menschenrechtsorganisation Amnesty International spricht sich gegen einen Boykott von Katar 2022 aus. „Wir wollen die internationale Aufmerksamkeit bei der WM nutzen. Es kommt nun darauf an, dass die Reformen auch über die Weltmeisterschaft hinaus langfristig zu Verbesserungen führen", so Amnesty-Expertin Lisa Salza.
Weltmeister und Ex-Nationalspieler Toni Kroos ergänzt gegenüber T-Online: „Fakt ist: Das Turnier wird stattfinden. Die Frage ist, wie man damit umgehen will. Ich finde, man sollte versuchen, dem Turnier die größtmögliche Bühne zu geben, um auf die Missstände im Land hinzuweisen. Aber bitte nicht nur vor und während des Turniers, sondern auch danach." Seine Forderung: „Das mediale Interesse an Katar darf nicht wegfallen, wenn die Fußballer wieder abziehen. Das ist wichtig.“ Dass die Menschen und ihre Grundrechte in einem abgeschotteten, international geächteten und boykottierten Katar bessere Karten hätten, darf tatsächlich bezweifelt werden.
Die Menschenrechtslage beim künftigen WM-Gastgeber muss nach westlichen Maßstäben nach wie vor als verheerend bezeichnet werden. In der Rangliste der Pressefreiheit der Organisation „Reporter ohne Grenzen“ für das Jahr 2021 belegt Katar Platz 128 von 180 Ländern. Bernd-M. Beyer und Dietrich Schulze-Marmeling schreiben in ihrem „Boykottiert Katar!“-Buch: „Stark eingeschränkt in dem Land sind die Meinungs- und Religionsfreiheit, das Recht auf freie sexuelle Orientierung, die Gleichberechtigung von Frauen oder auch das Koalitionsrecht von Arbeitnehmern. Bei der Verfolgung von unliebsamen Personen geht Katar intransparent und brutal vor.“ Dabei kommt es laut Amnesty International zu Folter und anderen Formen der Misshandlung.
Im Demokratie-Index der britischen Zeitung „The Economist“ liegt Katar auf Platz 126 von 167 Ländern und wird als „autoritäres System“ eingestuft. Immerhin, es gibt noch demokratiefeindlichere Länder, in denen die FIFA künftig ihr Turnier austragen könnte, „Spitzenreiter“ ist Nordkorea. Doch sportliche Großveranstaltungen in Unrechtsstaaten haben nicht erst seit den Olympischen Spielen 1936 in Nazi-Deutschland Tradition. Schon zwei Jahre zuvor nutzte Italiens faschistischer Diktator Benito Mussolini die Fußball-WM 1934 im eigenen Land als politische Plattform. Und auch 1978 hat die FIFA bedenkenlos die Fußball-WM in die Militärdiktatur Argentiniens vergeben. Von den Stadien aus sollen die Schreie und Hilferufe aus den Folterkellern der Gefängnisse zu hören gewesen sein. Berti Vogts hat als damaliger Kapitän der deutschen Mannschaft das Unrecht relativiert: „Argentinien ist ein Land, in dem Ordnung herrscht. Ich habe keinen einzigen politischen Gefangenen gesehen.“
2013 hat dann auch Vogts’ früherer Mannschaftskollege Franz Beckenbauer bei seinem freundschaftlichen Besuch im ordnungsliebenden Katar „keinen einzigen Sklaven gesehen“. 44 Jahre nach den argentinischen Militärs dürfen sich 2022 also auch die absolutistischen Herrscher Katars im Licht der Weltmeisterschaft sonnen und vom Unrecht in ihrem Land ablenken. Für demokratisch gesinnte Beobachter und Fußballfans ist das schwer erträglich. Lernt die FIFA nichts dazu? Sie will gar nicht, heißt es im „Boykottiert Katar!“-Buch, ganz im Gegenteil: „Weltsportführer und Autokraten sind Seelenverwandte. Beide Seiten lieben das Gigantische, Monströse und schwelgen in Allmachtsfantasien. Länder wie Russland und Katar bekommen nicht den Zuschlag trotz demokratischer Defizite – sondern wegen dieser.“ Pressefreiheit oder kritische Nachfragen hassen FIFA und IOC ohnehin mindestens so sehr wie Wladimir Putin oder Katars Machthaber Scheich Tamim bin Hamad Al Thani.
In Katar leben 2,7 Millionen Menschen – von denen aber nur 300.000 Staatsbürger des Landes sind. Beim großen Rest der Bevölkerung handelt es sich um Arbeiter (oder auch Arbeitssklaven), meist Migranten aus Nepal, Indien oder Bangladesch ohne nennenswerte Bürgerrechte und ohne Zugang zu einer angemessenen Gesundheitsversorgung. Das berüchtigte Kafala-System, eine Art Abhängigkeits-Verhältnis zwischen Arbeitgebern und Arbeitern, wurde in Katar zwar auf Druck des Westens abgeschafft. Seitdem dürfen die Arbeitgeber zumindest offiziell nicht mehr die Pässe der Arbeiter einbehalten, und sie damit praktisch in Gefangenschaft nehmen. Doch zu massiven Menschenrechtsverletzungen kommt es bei der Beschäftigung offenbar nach wie vor. Wie der FC-Bayern-Fanclub „Nr. 12“ bei seinen Recherchen erfahren haben will, können die Arbeiter in Katar bei einer Corona-Erkrankung über Nacht in ihre Heimatländer abgeschoben werden – häufig, ohne ihren Lohn zu erhalten, und unter Verlust ihrer Besitztümer.
Erst seit 2017 gibt es aufgrund des Drucks aus dem Ausland einen monatlichen Mindestlohn von 230 Euro – und das in einem der reichsten Länder der Welt. Laut des britischen „Guardian“ sind seit 2010 bei den WM-Bauarbeiten in Katar mindestens 6.500 Menschen ums Leben gekommen – die meisten aufgrund der regelrecht brutalen Arbeitsbedingungen in der Wüstenhitze. Auf jeden der rund 700 Fußballspieler bei der WM 2022 entfallen demnach also schon jetzt knapp zehn tote Bauarbeiter. An diesem WM-Pokal wird Blut kleben – wobei die konkreten Zahlen als umstritten gelten. Denn es ist unklar, wie viele der Todesfälle tatsächlich auf das Konto der Bauarbeiten gehen. So oder so bleibt es absurd, in einem Mini-Staat wie Katar mit Kosten von bis zu vier Milliarden Dollar acht WM-Stadien aus dem Wüstenboden zu stampfen. Denn das Emirat misst gerade mal 11.627 Quadratkilometer. Mit dem Saarland, Berlin, Hamburg und Bremen sind nur vier der 16 deutschen Bundesländer noch kleiner.
Anders gesagt: In Schleswig-Holstein (15.799 Quadratkilometer), zwischen Lübeck, St. Peter-Ording und Flensburg, hätte die FIFA mehr Platz für ihre Fußball-Tempel gehabt.
Die Fortschritte in Katar, die Karl-Heinz Rummenigge auch dem Engagement des FC Bayern vor Ort zuschreibt, sind offenbar tatsächlich real. Rummenigge findet, dass Katar „bei den Menschen- und Arbeitsrechten schon ein ganzes Stück nach vorne gekommen“ sei. Die Menschenrechtsanwältin Sylvia Schenk stimmt im März 2021 gegenüber dem Spiegel zu: „In einem Call des Center for Sport and Human Rights mit Menschenrechtsexpert*innen und der FIFA wurde von dem Vertreter der internationalen Gewerkschaften festgehalten, dass die Reformen in Katar real sind, es gibt große Fortschritte. Alle wollen natürlich, dass es noch schneller geht. Aber es wurde auch gesagt, dass kein anderes Land in der Geschichte bekannt sei, das so viele Reformen in so kurzer Zeit angestrengt hat.“
Der freie Fußball-Journalist Ronny Blaschke schreibt im „Boykottiert Katar!“-Buch, das durchaus alle Seiten zu Wort kommen lässt: „Nach Maßstäben Europas, dessen Gewerkschaften sich über Generationen herausgebildet haben, ist Katar rückständig. Nach Maßstäben der Golfregion, die Arbeiterbewegungen nicht kennt, ist Katar ein Zukunftsmodell.“ Und, so Blaschke weiter: „So zynisch es klingen mag: Erst durch den Fußball ist Europa auf die vielen toten Gastarbeiter in Katar aufmerksam geworden.“ Schenk zweifelt ebenso wie andere Beobachter auch die Zahl der 6.500 toten WM-Bauarbeiter an. Tatsächlich hätten von den Opfern „nur“ 20 Prozent an den Stadien gearbeitet. Die Anwältin warnt, die offenbar erkennbaren Fortschritte in Katar durch einen WM-Boykott abzuwürgen: „Ein Boykott wäre völlig verkehrt. Der würde nur die Beharrungskräfte in Katar stärken, anstatt die Reformkräfte zu unterstützen."
Wer einen Boykott der WM fordert, müsste in der Konsequenz die ganze Fußballindustrie boykottieren“, gibt Journalist Ronny Blaschke zu bedenken. Denn Korruption, zweifelhafte Geschäfte und wahnwitziger Umgang mit Geld sind in der modernen Fußballindustrie allgegenwärtig – dazu muss niemand mit dem Finger auf Katar zeigen. Zudem sind die Verflechtungen von Katar und anderer autokratischer Golfstaaten mit der internationalen Wirtschaft und dem weltweiten Sport längst so gewaltig und unumkehrbar, dass ein WM-Boykott regelrecht absurd wirken würde. Müsste Paris Saint-Germain dann seine katarischen Klubeigentümer auszahlen? Dürfte der FC Bayern nicht mehr ins Trainingslager nach Doha reisen? Was ist mit der Deutschen Bahn? Darf sie sich dann noch am milliardenteuren Streckenausbau in Katar beteiligen?
Und wie geht man dann mit dem noch viel größeren, mächtigeren und einflussreicheren Saudi-Arabien um, das gerade erst in den Weltsport strebt, und das unter anderem im Dezember 2021 sein erstes Formel-1-Rennen veranstaltet – obwohl es in den Ranglisten für Demokratie (Platz 156) und Pressefreiheit (Platz 170) sogar noch hinter Katar liegt? Angesichts von Milliarden und Abermilliarden, die die Golfstaaten im Westen investieren, kann es vernünftigerweise wohl kein Gegeneinander mehr geben – sondern nur ein Miteinander, bei dem konsequent und beharrlich versucht wird, die Lebensbedingungen der Menschen vor Ort zu verbessern. Journalist Blaschke drückt das so pragmatisch aus: „Ein breiter WM-Boykott ist unrealistisch. Wir sollten uns von der Utopie verabschieden, dass sich die Kommerzlogik des Profifußballs überwinden lässt. Wer dieses Hobby dennoch nicht aufgeben will, kann auch in einem schlechten System etwas Gutes bewirken."
Nach derzeitigem Stand werden die 32 Mannschaften im November 2022 also tatsächlich nach Katar reisen und dort ihren Weltmeister ermitteln – wobei die Frage ist, wie viel der WM-Titel bei diesem in vielerlei Hinsicht absurden Turnier dann sportlich noch wert ist. Trotz ihres Buchtitels „Boykottiert Katar 2022!“ gehen Bernd-M. Beyer und Dietrich Schulze-Marmeling längst nicht mehr davon aus, dass die Fußballer zuhause bleiben, oder die Zuschauer daheim den Fernseher nicht einschalten. Sie hoffen unter dem Hashtag #BoycottQatar2022 auf kluge und kreative Maßnahmen, mit denen Fans in aller Welt zeigen, dass sie mit dem korrupten System der FIFA und mit der Austragung der WM im Unrechtsstaat Katar nicht einverstanden sind.
Die Autoren denken an „zivilen Ungehorsam“, zum Beispiel mit Gegenturnieren während der WM in der Heimat, an Protestaktionen, an Choreos in den Stadien, an Protestbriefe an die Verantwortlichen und an klare Zeichen in den sozialen Medien. Eine der amüsantesten Ideen ist dabei das Maskottchen „Infandino“ als Sinnbild eines korrupten, rückwärtsgewandten Fußballfunktionärs – in Anlehnung an FIFA-Präsident Gianni Infantino. Denn im Endeffekt sitzt nicht die FIFA an den Hebeln der Macht – sondern die Fans als weltweite Basis des Fußballsports. Hoffnungsvolles Fazit der beiden Experten: „Fans haben eine Macht als KonsumentInnen. Merken Coca-Cola und Co., dass es Gift für die Kasse ist, wenn sie solche Turniere sponsern, dann werden sie es künftig lassen. Und spätestens dann wird auch die FIFA zwangsläufig umdenken müssen."
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