Find the Balance/20.07.2021

Find the balance: Wie viel Meinung ist bei #Olympia erlaubt?

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Die Olympischen Spiele müssen frei von jeder politischen Stellungnahme sein. Diese über Jahrzehnte wie in Stein gemeißelte Haltung hat das IOC das Internationale Olympische Komitee kurz vor Beginn der Spiele in Tokio aufgeweicht. Ein bisschen zumindest. Die Haltung bleibt dennoch schwammig, sodass vermutlich in Zukunft wieder viel von der jeweiligen Laune der dann agierenden Funktionäre abhängt. Und vermutlich auch von dem Land, in dem Olympia stattfindet, unter einem demokratischen Gastgeber wie Japan oder Deutschland dürfte mehr möglich sein - in Russland oder China weniger. ISPO.com zeigt dir, wie viel Meinung bei #Olympia erlaubt ist und welche Probleme diese Haltung birgt.

The Olympic rings at the 2012 London games
Wie viel politische Meinung ist bei #Olympia 2020 erlaubt?

Nehmen wir mal an, die Olympischen Spiele in Tokio hätten 2020 nicht wegen der Corona-Pandemie verschoben werden müssen. Dann hätten die Spiele wohl kurz nach dem gewaltsamen Tod von George Floyd durch das minutenlange Knien des Polizisten Derek Chauvin auf seinem Hals begonnen. Und damit zu einem Zeitpunkt, wo unter dem Motto Black Live Matters vor allem in den USA, aber auch weltweit Menschen gegen Rassismus und Diskriminierung auf die Straße gingen und Haltung zeigten. Nehmen wir nun darüber hinaus an, in dieser Stimmung hätte sich ein Olympiasieger bei der Medaillenzeremonie mit Black Live Matters solidarisiert, hätte ein T-Shirt getragen oder ein Schild in die Höhe gehalten. Dieser Olympiasieger wäre wohl von den Olympischen Spielen ausgeschlossen worden.

Haltung zeigen führt zu Ausschluss bei den olympischen Spielen

Und ja, auch bei den nun mit Verspätung stattfindenden Spielen muss jeder Olympionike, der sich bei der Siegerehrung mit Black Live Matters solidarisiert, seinen Ausschluss von den Spielen fürchten. Zumindest interpretierte Maximilian Klein von der Organisation Athleten Deutschland, die mehr als 1000 Athletinnen und Athleten vertritt, gegenüber der Deutschen Welle die neuen IOC-Regeln zum Thema Haltung zeigen so, dass eine Solidarisierung mit Black Live Matters weiter zu unerwünschten Meinungsbekundungen gehört.

Die Athleten Tommie Smith und John Carlos erwischte es 1968

Das bis heute bekannteste Beispiel für rigoroses Vorgehen des IOC sind die Olympischen Spiele von 1968. Das Bild der erfolgreichen Sprinter Tommie Smith und John Carlos, die damals aus Solidarität mit der Black Power-Bewegung auf dem Siegerpodest die Faust in den Himmel reckten, wurde ikonisch. Smith, der frisch einen 200-Meter-Weltrekord aufgestellt hatte, und sein Kollege Carlos wurden danach von den Spielen ausgeschlossen. Grundlage war Regel 50.2 der Olympischen Charta: Keine Art von Demonstration oder politischer, religiöser oder rassistischer Propaganda ist erlaubt an allen olympischen Stätten, Austragungsorten oder in anderen Bereichen.

Dass diese Regel nicht mehr zeitgemäß ist, sagen schon lange viele Athlet*innen weltweit und auch Politiker*innen wünschen sich eine Änderung. Tatsächlich hat sich auch die Bedeutung von Sportler*innen seit dem Verfassen der Charta vor vielen Jahrzehnten stark verändert: Damals gab es eine stärkere Trennung in der Wahrnehmung von Einflussgruppen. Für die Moral waren die Kirchen zuständig, für die Show das Film- und Musikgeschäft, für den Sport die Sportler*innen.

Sportstars sind heute Influencer

Doch schon lange sind diese viel mehr nämlich Vorbilder auf unterschiedlichen Ebenen jenseits des Sports. Sportstars sind heute Influencer, haben Reichweiten auch abseits des Sportplatzes und geben Meinungen kund. Aber sollten sie sich deshalb auch in gesellschaftliche Debatten einmischen? Und wenn ja, wie weit dürfen diese führen? Und an welcher Stelle? Viele Sportler*innen wollen Botschaften vermitteln manche als Kämpfer für gesellschaftliche Veränderungen, andere schlicht als Werbeträger. Das Image braucht Athleten mit Ecken und Kanten und Meinung. 

Die Fußball-Europameisterschaft zeigte jüngst, wie sensibel diese Frage ist und wie schwierig sie zu beantworten ist. Der deutsche Nationaltorwart Manuel Neuer trug eine Regenbogen-Kapitänsbinde, aus Solidarität mit der LGBTQ-Gemeinschaft. Kurzzeitig prüfte der europäische Fußballverband UEFA das Tragen der Binde auf einen möglichen Verstoß. Die Prüfung wurde ohne Strafen eingestellt. Als aber die Stadt München ihr Fußballstadion im Spiel Deutschlands gegen das wegen eines als LGBTQ-feindlichen Gesetzes in der Kritik stehende Ungarn in Regenbogenfarben leuchten lassen wollte, untersagte dies die UEFA. Das geplante Vorgehen der Stadt wurde als Affront gegen Ungarn gesehen.

Debatte um UEFA-Fußballspiel in München

Das Beispiel zeigt, dass eine eindeutige Festlegung schwierig ist. Wer nur die eine Seite sehen will, attackiert die UEFA für das Verbot. Aber war es nicht womöglich ein kluger Kompromiss, einem einzelnen Nationalmannschaftskapitän eine Geste zu gestatten, einer Gastgeberstadt aber nicht? Schließlich gehört die Debatte über das ungarische Gesetz ja eher auf die politische Ebene und findet dort ja auch statt etwa durch die Europäische Union und kritische Stimmen aus der Bundespolitik. Wie wir wissen, ließ sich die Stadt München dennoch nicht ganz aufhalten: Zwar leuchtete die Allianz-Arena nicht in den LGBTQ-Farben, dafür aber die Stadt selbst. 

Das IOC um seinen deutschen Präsidenten Thomas Bach hatte nach dem Fall George Floyd einen diplomatisch kühl kalkulierten Weg gewählt.  Auf die immer neuen Forderungen nach einer Änderung der Charta reagierte das IOC so, dass es der Athletenkommission den Ball zuspielte. Das war die direkte Reaktion auf den Fall George Floyd. Die Generaldirektorin des Olympischen Komitees der USA, Sarah Hirshland, hatte an erster Stelle Änderungen des Verbotsparagraphen gefordert. Sie habe eine von Athleten geleitete Gruppe gegründet, um die Regeln und Systeme unserer eigenen Organisation infrage zu stellen, einschließlich ihres Rechts auf Protest schrieb sie vor einem Jahr kämpferisch an die US-Athleten und begründete dies mit dem inakzeptablen Schmerz der schwarzen Gemeinschaft durch den Tod des Mitbürgers.

Internationale Mehrheit der Athlet*innen will Protestverbot

Womöglich hat Bach damals einkalkuliert, dass die Athleten-Kommission nicht nur die Haltung von liberalen Sportler*innen etwa aus den USA oder Deutschland widerspiegelt sondern eben von den Sportler*innen aus allen Ländern. Jedenfalls unterstützte eine Mehrheit der Athlet*innen aus 185 Ländern und 41 Sportlern das Protestverbot aus der Olympischen Charta.  Dass die Forderung nach freien Protestmöglichkeiten einen schweren Stand hat, zeigte im Laufe der Debatte exemplarisch auch Deutschland. Der inzwischen zurückgetretene Präsident des Deutschen Olympischen Sportbundes, Thomas Hörmann, hatte für die Funktionärsebene eine differenzierte Auseinandersetzung gefordert. In der aktuellen Diskussion muss man sehr präzise trennen zwischen politischen Statements und der Unterstützung von grundsätzlichen Zielen wie der Einhaltung der Menschenrechte, die sogar in Verbandssatzungen oder auch der Olympischen Charta konkret benannt sind. Dagegen sagte Athleten Deutschland-Vertreter Klein schon damals, dass sich die Athlet*innen als Personen des öffentlichen Lebens in der Verantwortung sehen.

Wie politisch ist der IOC selbst?

Was man nicht vergessen darf: Wenngleich der IOC den Olympioniken eine politische Haltung verbietet, bei sich selbst macht er da eine Ausnahme. Denn oh Wunder der IOC hat im Laufe der Geschichte schon öfter politische Entscheidungen getroffen, die auch der Öffentlichkeit nicht verborgen blieben. Wir erinnern uns hier an die dringliche Aufforderung an Saudi-Arabien, auch weibliche Sportlerinnen in die Wettkämpfe zu schicken. Der IOC-Druck hatte Erfolg: Ab 2012 durften auch Frauen aus dem streng-muslimischen Land als Athletinnen antreten. Weniger positiv in Erinnerung bleibt da der Umgang mit dem südafrikanischen Olympia-Team. Als 1936 die olympischen Spiele in Berlin stattfanden und Adolf Hitler an die Macht kam, sollte nur ein All-White-Team bei den Spielen antreten. Man wollte keinen Gastgeber verärgern. Jahre später führte jenes weiße Team zum Ausschluss bei den Spielen: Südafrika weigerte sich, Schwarze Sportler*innen zu den Wettkämpfen zu schicken, der IOC verbannte das Land auf Druck der Weltöffentlichkeit von den Spielen. Politisch, ohja!

Olympia als Schauplatz für Politik

Doch damit nicht genug: Auch die Olympischen Spiele selbst wurden oftmals Schauplatz von Politik. Während des Kalten Krieges boykottierten die USA und die ehemalige Sowjetunion die Spiele im jeweils anderen Land. Und auch das Olympia-Attentat 1972 in München war politisch motiviert: Palästinensische Terroristen ermordeten elf Teammitglieder des israelischen Teams. Und ganz aktuell: Der internationale Protest gegen die Olympischen Spiele in China aufgrund von Menschenrechtsverletzungen. 

Ganz so einfach lässt sich Olympia also nicht von politischen Entscheidungen und Meinungen trennen. Vielleicht auch deshalb wagte sich der IOC jetzt zu einer minimalen Veränderung der Charta hervor.

Fauler Kompromiss?

Doch was nun herausgekommen ist, ist ein Kompromiss, der näher bei Funktionär Hörmann ist als bei Athletenvertreter Klein und näher bei der Haltung des Fußballverbands UEFA als bei Manuel Neuer.  Konkret dürfen sich Sportlerinnen und Sportler in Tokio offiziell politisch äußern dies aber nach festen Regeln. Äußern dürfen sie sich in den Interviewzonen der Wettkampfstätten, bei Pressekonferenzen, in Interviews, bei Teamsitzungen oder auch über die sozialen Netzwerke. Am Wettkampfort also im Olympiastadion und den anderen Sportstätten dürfen sie sich politisch nur äußern oder Gesten zeigen, sofern sie sich nicht direkt oder indirekt gegen Menschen, Länder, Organisationen und/oder deren Würde richten und nicht störend sind, etwa bei der Vorbereitung anderer Athlet*innen oder Mannschaften auf den Wettkampf.

Meinung äußern ja - aber nicht am Wettkampfsort

Die Interpretation dieser Regeln sind im Streitfall vermutlich nicht einfach. Maximilian Klein von Athleten Deutschland meint in der Deutschen Welle, die vermeintlichen Lockerungen der Regel 50 bleiben weit hinter unseren Erwartungen zurück. Sie gehen weiterhin am Kernproblem der pauschalen Einschränkung der Meinungsfreiheit vorbei. Das IOC habe die Grundproblematik nicht angemessen aufgelöst, sondern bestimme nun über Ort und Zeitpunkt von Meinungsäußerungen. Rob Koehler, Chef des internationalen Bündnisses Global Athletes, twitterte, das IOC habe eine neue Lehrstunde in PR gegegeben. Sie sagen, sie hätten die Regeln geändert, haben es aber nicht wirklich getan.

Kniefall gegen Rassismus wird zum Thema

Wie faul der Kompromiss ist, bewies ein Ereignis nur wenige Tage vor der Eröffnung der olympischen Spiele. Vor dem Auftaktspiel des Olympia-Turniers der Fußballspielerinnen wagten die Teams aus Großbritannien und Chile ein politisches Zeigen: Sie gingen auf die Knie, um gegen Rassismus zu demonstrieren. Auch die Schiedsrichter machten mit. Die USA und Schweden schlossen sich an, auch vor ihrem Spiel gingen die Spielerinnen auf die Knie. Für IOC-Präsident Thomas Bach war die Lage klar: "Das ist erlaubt, das ist kein Verstoß gegen die Regel 50", gab er später in Tokio zu Protokoll. Wirkt die Aufweichung der Charta also schon?

Geht so, könnte man sagen. Denn auf den sozialen Medien noch auf den Websiten der olympischen Spiele wurde die Aktion erwähnt. Ein Schelm wer Böses dabei denkt. Geduldet wurde die Aktion sehr wohl, gern gesehen - darüber lässt sich wohl streiten. Gerüchten zufolge habe der IOC das Teilen der Bilder auf Social Media verboten, wie der Guardian berichtete. Zumindest bleibt ein fader Beigeschmack, wenn gleich die Bilder der Teams sehr wohl um die Welt gingen.  

Übrigens: Einen Tag später knickte auch der IOC ein und ließ verlauten, die Bilder nun doch auf seinen Social-Media-Kanälen teilen zu wollen. "Solche Momente gehören auch zu Olympia." 

 

 

Olympischer Eid wird angepasst

Eine gute Nachricht gab's dann aber doch - so kurz vor Beginn der olympischen Spiele: Der olympische Eid wird angepasst um ein Zeichen für Geschlechtergerechtigkeit zu setzen. Künftig soll der Eid von sechs statt wie bisher drei Personen abgelegt werden. Dadurch solle ein Gleichgewicht der Geschlechter garantiert werden. Künftig sprechen zwei Athlet*innen, zwei Trainer*innen sowie zwei Kampfrichter*innen den Eid stellvertretend für alle Teilnehmer*innen. 

Wir Olympioniken sind Vorbilder und Botschafter. Wir stehen zusammen, um der Welt eine kraftvolle Botschaft der Gleichheit, der Inklusion, der Solidarität, des Friedens und des Respekts zu übermitteln, sagte die Vorsitzende der IOC-Athletenkommission, Kirsty Coventry. Die für die Olympischen Spiele in Tokio 2020 ausgewählten Eidessprecher sind vollständig geschlechterparitätisch und werden den olympischen Eid im Namen aller Olympioniken, Kampfrichter, Trainer und Offiziellen, die sie vertreten, im wahren Geist der Solidarität ablegen. Die beste Nachricht: Der Eid wurde auch inhaltlich angepasst: Künftig bezieht sich dieser auch auf Solidarität, Inklusion, Gleichheit und Anti-Diskriminierung.

Und weil der IOC so in politischer Laune war, gab’s oben drauf noch eine Änderung: Ab sofort darf jedes Land einen weiblichen sowie einen männlichen Fahnenträger für die Eröffnungszeremonie benennen. Zeit wurde es, denn man könnte sagen endlich gibt es bei den olympischen Spielen eine Geschlechterparität. In Tokio sind erstmals 49 Prozent aller Teilnehmer*innen weiblich. 

Es scheint also, als wäre das Thema Gleichberechtigung eines, in das sich der IOC gerne einmischt. Andere politische Aktivitäten geht so. Da braucht es wohl noch Zeit. Und Geduld vor allem bei den Olympioniken.

Sportler*innen können sich äußern - und vielleicht sogar auch medienwirksam

Doch Hoffnung für etwas politische Haltung gibt es dennoch: Denn die Sportler*innen haben viele Ebenen, in denen sie sich jenseits der Wettkämpfe während der Olympischen Spiele kritisch politisch äußern dürfen, ohne Strafen fürchten zu müssen. Ob Allyson Felix mit eigener Sneakermarke oder Sarah Voss im Ganzkörperanzug: Wer die geschickten PR-Auftritte einer ganzen Vielzahl von Olympioniken kennt und beobachtet kann sicher sein, dass sie mit ihrer Meinung durchdringen werden. Und noch eins kommt hinzu: Sollte ein*e Olympiasieger*in tatsächlich einen Protest wählen, der nach den Regeln zu einem Ausschluss aus dem Wettbewerb führen kann, wird das IOC vermutlich trotzdem zweimal über solch einen Schritt nachdenken. Denn auch das ist die Lehre aus dem Verbotsparagraphen: Die Geste von 1968 blieb nur wegen des Ausschlusses von Smith und Carlos bis heute in Erinnerung.

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