- Wenig Platz für zu viele Verkehrsteilnehmende
- Autos dominieren unser Stadtbild
- Häufig sind die Alternativen zum Auto (noch) unattraktiv
- Bremen und Münster: Copenhagenied Cities
- Kopenhagen: Weltstadt mit Weitsicht
- Paris packt an
- Politik handelt oft zäh und zögerlich
- Autofahrer*innen müssen lernen zu verzichten
- Radfahrer*innen müssen geduldiger sein
Fußgängern*innen und Radfahrer*innen, Autos und Transporter, Roller und E-Scooter. Dazu Lieferverkehr sowie Busse und Bahnen. Und zur Rushhour alles auch noch gleichzeitig. Vor allem in Städten strapaziert das begrenzte Platzangebot die Nerven der Verkehrsteilnehmenden. Von Achtsamkeit und Rücksicht bleibt oft nicht mehr als der gute Vorsatz. Es herrscht Stress, vor allem zwischen Radler*innen und Autofahrer*innen. Alle pochen auf ihr Recht, es wird geschimpft, blockiert und manchmal auch gefährdet. Gerade in Großstädten sind Radfahrer*innen oft Freiwild: tote Winkel, missachtete Vorfahrten, nicht eingehaltene Mindestabstände. Aber auch manche Biker sind keine Engel auf zwei Rädern: ignorierte Verkehrsregeln, Flüche, Gesten, Tritte gegen Blechboliden. Das Verhältnis zwischen den Parteien wirkt angespannter denn je. Dabei kennen die meisten doch beide Seiten. Was ist bloß los auf unseren Straßen?
Städte weltweit ächzen unter zu viel Verkehr, Stau, Abgasen – und leiden unter Platzmangel. Beispiel aus einer beliebigen europäischen Metropole: Je zwei Fahrstreifen in beide Richtungen sind für Pkw reserviert, daneben noch jeweils eine Reihe parkender Autos, macht insgesamt sechs Streifen. In der Mitte fährt die Straßenbahn. Ganz außen, zwischen den parkenden Autos und den Häuserfassaden gibt es zwei schmale Spuren für Radfahrer und Fußgänger, zusammen weniger als eine einzelne Autofahrbahn. Diesen Platz müssen sich Fußgänger und Radfahrer auch noch mit den Auslagen der Geschäfte und der Außengastronomie teilen. Wenn dann diverse Lieferdienste auch noch Rad- oder Fußwege blockieren, dann wird es richtig wild.
Der Ursprung dieses Dilemmas liegt viele Jahrzehnte zurück. Das Auto dominiert spätestens seit den 1960er Jahren die Verkehrsplanung. Wir bauten Straßen über Pässe und Flüsse, Tunnel durch Berge, Autobahnen, Parkhäuser, Parkplätze und Ampeln, die eigentlich nur da sind, weil es Autos gibt. Allein in Berlin gibt es derzeit 1,18 Millionen Pkw. Heinrich Strößenreuther, Wirtschaftsingenieur, Mitbegründer der KlimaUnion und Umweltaktivist, rechnete in einer Studie kürzlich vor, dass der mobile Individualverkehr in Berlin 39 % des öffentlichen Straßenraums ausmacht. Weitere 19 % belegt der ruhende mobile Individualverkehr, sprich Parkflächen. Der Flächenanteil für Radwege liegt bei mageren 3 %. Wenn man bedenkt, dass 30 % des täglichen Pendelverkehrs in Berlin mit dem Fahrrad zurückgelegt werden, und damit mehr als mit dem Auto, dann wird klar, dass die Infrastruktur nicht mehr zur Nutzung passt. Und hier ist maßgeblich die Politik gefordert.
Katja Diehl ist Autorin, Podcasterin und Verkehrswende-Aktivistin. Sie verteufelt das Auto nicht, schließlich gäbe es berechtigte Gründe, dass Menschen im Pkw unterwegs seien. „Es muss aber von Vorteil sein, das Auto stehenzulassen. Das geschieht, wenn die Alternativen attraktiver und verfügbarer werden“, so Diehl. „Es muss uns gelingen, eine Flächengerechtigkeit zu schaffen.“ Dass man davon vielerorts weit entfernt ist, zeigen nicht nur Untersuchungen aus der deutschen Hauptstadt.
In manchen Städten gelingt das besser, und in manchen sogar schneller. Alle zwei Jahre führt der Allgemeine Deutsche Fahrrad Club (ADFC) eine bundesweite Online-Umfrage durch, in der die fahrradfreundlichsten deutschen Städte ermittelt werden – den sogenannten Fahrrad-Klima-Test. Das Ergebnis: Bremen ist aktuell die fahrradfreundlichste Großstadt in Deutschland. Über 800 Kilometer hervorragend ausgeschildertes Radwegenetz, besondere Hoheitsrechte für Radfahrende oder exklusive Radrouten sind nur einige Parameter, die Bremen in der Kategorie Großstadt den 1. Platz bescheren. In der Hansestadt ist Radfahren ein Lebensgefühl. Auch Münster mit Deutschlands größtem Fahrradparkhaus für bis zu 3.500 Stellplätzen und eigener Velo-Autobahn ist in dem Ranking ganz vorne dabei. Beide Champions sind copenhagenized cities.
Denn das Vorbild für viele Stadtplaner und die Politik ist Kopenhagen, das als fahrradfreundlichste Stadt der Welt gilt. Brücken nur für Fahrradfahrer durchschlängeln die gesamte Stadt, breitere Radwege, Fahrrad-Parkhäuser – in Kopenhagen dominiert das Velo das Stadtbild. Obwohl Radfahren gerade im Berufsverkehr nicht immer stressfrei vonstattengeht, hat Kopenhagen die Vorteile erkannt und mit seinem Mobilitätskonzept bereits vor 50 Jahren begonnen. Die dänische Staatskasse, vor allem das Gesundheitswesen, spart laut eigenen Angaben knapp einen Euro pro geradelten Kilometer. Autofahren hingegen kostet den Staat Geld und die Fahrer*innen oft kostbare Lebenszeit im Stau.
Dass man durchaus auch schneller Erfolge erzielen kann, hat man in Paris bewiesen. Die französische Hauptstadt geht radikale Wege, um den Autoverkehr zu reduzieren. Ziel von Bürgermeisterin Anne Hidalgo ist es, den Verkehrskollaps in der City zu verhindern und Paris den Fußgänger*innen, Bikern und Kindern ein Stück weit zurückzugeben. Dafür hat sie unter anderem eine Stadtautobahn an der Seine in eine Fußgängerzone umgewandelt, 60.000 Parkplätze gestrichen und praktisch in der gesamten Stadt Tempo 30 eingeführt. Von solchen Ideen ist man in Deutschland weit entfernt, oft aus Angst vor dem Verlust von Wählerstimmen. Für Anne Hidalgo hat sich der Kurs indes ausbezahlt: Sie wurde 2020 aufgrund ihres Programms für eine zweite Amtszeit wiedergewählt.
„Auf Landes- und Kommunalebene schreitet die Verkehrswende derzeit schneller voran als auf Bundesebene. Aber generell läuft es zäh“, so Katja Diehl. Die Fakten: Für Erhalt und Betrieb von Autobahnen sieht der Bundeshaushalt für 2024 satte 11,5 Milliarden Euro vor und bleibt damit auf Vorjahresniveau. Die Unterstützung des Bundes von Ländern und Kommunen beim Radwegeausbau sinkt hingegen weiter. 400 Millionen Euro bleiben 2024 übrig für den Radverkehr, nach 750 Millionen Euro 2022. So sehr diese Zahlen auch enttäuschen: Katja Diehl zieht daraus trotzdem etwas Positives: „Wenigstens wird endlich über dieses Missverhältnis gesprochen. Es findet den Weg in die breite Öffentlichkeit. Das war viele Jahre nicht so.“ Trotzdem: Die Verkehrswende ist work in progress und zumindest in Deutschland aktuell noch mit Schrittgeschwindigkeit unterwegs. Aber wie bekommen wir so lange die Aggressionen in den Griff? Wir hätten da einen ernst gemeinten Appell.
Liebe Autofahrer*innen, schaut häufiger in den Seitenspiegel und nehmt Rücksicht! Alle Radfahrenden, denen ihr begegnet, schützen das Klima und gestalten aktiv die Verkehrswende mit. Das solltet ihr immer im Kopf behalten. Schaut auch öfter in das Gesicht im Rückspiegel und fragt euch: Muss ich für diese Fahrt tatsächlich das Auto bewegen? Und habt den toten Winkel im Blick, aber blickt nicht zurück auf alte Zeiten! Denn: Autofahrer*innen werden lernen müssen, zu verzichten. Städte müssen nicht nur entkarbonisiert, sondern auch „entzementiert“ werden, um mehr kühlende Grünflächen zu schaffen. Und dafür wird das Automobil zurückstecken müssen.
Liebe Radfahrer*innen, schaut nach vorne und habt Geduld. Denn Radverkehr ist für die Verkehrswende unerlässlich und dafür werden die nötigen Infrastrukturen peu à peu geschaffen. Seid tolerant und verflucht nicht jede Person im Pkw. Es gibt Menschen, die auf das Auto angewiesen sind. Und letztlich könnt ihr doch einfach froh sein, dass ihr mit dem Fahrrad unterwegs seid. Denn Autofahren kostet viel Geld, oftmals auch viel Lebenszeit.
Wir plädieren für mehr Verständnis, mehr Rücksicht. Denn wir haben doch ein gemeinsames Ziel und das heißt: gesund ankommen! Wenn alle einen Gang runterschalten, dann kann es im Straßenverkehr wieder etwas harmonischer zugehen. Die Politik hingegen, die darf gerne drei Gänge hochschalten!
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