Christian Schenk setzte sich 1988 bei den Olympischen Spielen in Seoul die Krone der Leichtathletik auf: Er gewann die Goldmedaille im Zehnkampf. 30 Jahre später erschien sein Buch „Riss – Mein Leben zwischen Hymne und Hölle“ (erschienen im Verlag Droemer Knaur). Darin gewährt er einen intimen, sehr existenziellen Blick in seine kranke Seele. Es ist eine Lebensbeichte, die die tiefe Schwärze im Leben eines Menschen erzählt, der einst im gleißenden Licht stand. Doch der 57-Jährige gibt nicht auf, obwohl er nach eigenen Worten rund 90 Wochen in der Psychiatrie verbringen musste.
Heute weiß Schenk sehr genau, wann er einen Gang oder auch mehrere herunterschalten muss. Und er hat ein neues Herzensthema für sich entdeckt: Inklusion. Der Sport ist in seinen Augen ideal, um Menschen zu verbinden – mit und ohne Handicap. Kürzlich organisierte Schenk zum ersten Mal das Rostocker Festival „all inklusiv“ – ein Wochenende mit diversen Veranstaltungen, zum Beispiel Lesungen, Kinovorstellungen, Symposien, Gesprächsrunden sowie sportlichen Aktivitäten. Wir sprachen mit ihm über ernste und fröhliche Themen, und darüber, wie er Inklusion leicht, positiv und eingängig besetzen möchte.
Triggerwarnung: In diesem Interview geht es um Depression und Selbstmord. Bei manchen Menschen können diese Themen negative Reaktionen auslösen. Bitte sei achtsam, wenn das bei dir der Fall ist. Hilfe für Betroffene gibt es bei der Deutschen Depressionshilfe online, oder unter Telefon 0800/3344533.
ISPO.com: Gerade erst sind die European Championships in München zu Ende gegangen, mit einem deutschen Goldmedaillengewinner im Zehnkampf – was traust du Niklas Kaul noch alles zu?
Christian Schenk: Niklas ist ein Athlet, der ja die seltene Voraussetzung hat, Eltern zu haben, die etwas von der Materie und von der Trainingsmethodik verstehen. Die in seinem Sinn bestmöglich agieren. Das ist ideal. Sie verfolgen nicht unbedingt den sofortigen Erfolg, sondern setzen auf kontinuierliche Verbesserung. Er ist ja schon sehr früh Weltmeister geworden. Jetzt hat er eine teilweise sehr gute Technik, und er wird in den kommenden Jahren sicher kräftiger und stärker. Das ist immer besser als andersherum. Deshalb glaube ich, dass er Potenzial hat. Sicherlich auch 8.6000, 8.700 Punkte zu übertreffen.
Nach der jüngsten WM wurde ja viel über die Krise der deutschen Leichtathletik gesprochen. Wie siehst du das?
Es ist ein kontinuierlicher Rückgang der Ergebnisse. Nach der Gaußschen Normalverteilung muss die Zahl der Talente aus den 60er-, 70er-, 80er-, 90er-, 2000er-Jahren immer gleich sein. Das sehen wir aber nicht so, also sind die Rahmenbedingungen nicht passend.
Magst du das genauer erklären?
Ich glaube, die sportliche Entwicklung kann jeder Trainer mit Fug und Recht den Eltern seiner Schützlinge mitteilen und sagen: ‚Mach es!‘. Wenn du dann aber fragst, wie die berufliche und persönliche Entwicklung ist, wird es sicherlich ein nicht ganz so flüssiges ‚Ja‘ sein. Wenn es dann um die finanzielle Sicherheit geht, wird man das erste Fragezeichen setzen. Und wenn nach der Entwicklung nach der Karriere gefragt wird, dann gibt es vier, fünf, sechs Fragezeichen. Solange das so ist, werden wir weiter einen Rückgang in der Leistungsfähigkeit haben. Erfolg entsteht dann nur per Zufall, wie beispielsweise jetzt bei Niklas.
Gibt es in deinen Augen noch andere Gründe für diese Krise?
Ja. Wenn wir keine Sieger haben, haben wir auch keine Vorbilder für die Jugend. Sie orientiert sich nicht am 18. einer Weltmeisterschaft. Einen weiteren Grund hat mir mein jüngerer Sohn kürzlich mitgeteilt. Er spielt Basketball und Beachvolleyball und antwortete auf die Frage: ‚Warum machst du keine Leichtathletik? Weil ich da nicht meinen Stil zeigen kann. Den habe ich beim Spiel.‘ Das ist eine sehr beachtenswerte Aussage, denn junge Menschen wollen sich unterscheiden. Und wenn dir vorgegeben wird, wie du beispielsweise Hürden zu laufen hast, ist das für einen jungen Menschen nicht attraktiv. Punkt. Eine Ausnahme ist sicherlich der Stabhochsprung.
Das heißt, du warst von den Ergebnissen der Leichtathletik-WM nicht gerade begeistert?
Ich sage immer, wir müssen jetzt gegen Chinesen, gegen Franzosen, gegen Schweizer, gegen Amis antreten im weltweiten Wettbewerb. Und die Deutschen haben von 147 Medaillen bei der Weltmeisterschaft zwei gemacht, zwei Medaillen. Da kann man jetzt noch sagen: Wir haben die EM. Aber ich bin dagesessen und war traurig, und dachte mir, das kann doch nicht sein! Bei der EM war das Ergebnis besser, aber nicht im Vergleich zum Weltmaßstab.
Kommen wir zu einer fröhlicheren Veranstaltung für dich: Du hast kürzlich zum ersten Mal das Festival „all inklusiv“ in Rostock organisiert. Wie kam es dazu?
Purer Zufall. Ein Freund hat mich 2020 gefragt, ob ich nicht Landestrainer Para-Leichtathletik in Mecklenburg-Vorpommern werden möchte. Und diese Stelle hat mich wirklich fasziniert, auch wenn ich sie nur ein Jahr innehatte. Ich lebe und arbeite nämlich gerne interdisziplinär. Deshalb habe ich, nachdem ich dann nicht mehr Trainer war, beschlossen: Lass uns doch das Thema Inklusion interdisziplinär sehen. Und das wurde begrüßt: von der Industrie, von der Wissenschaft, von der Kultur. Deshalb mache ich dieses Festival. Wir dürfen nämlich nicht vergessen: Wir haben eine unglaubliche Zielgruppe. Zwölf Millionen Menschen in Deutschland haben ein Handicap.
Die Idee für das Festival ist inspiriert vom Film „Ziemlich beste Freunde“ – stimmt das?
Ja, ich sehe Omar Sy als Role Model. Denn der Film über einen gelähmten Aristokraten, der einen unkonventionellen Pfleger aus einem Problemviertel engagiert hat, transportiert auf geniale Weise das Thema Inklusion. Gesehen von 80 Millionen Menschen in Europa. Es geht also.
Welche Botschaften soll „all inklusiv“ transportieren?
Erstens: Wir wollen Angebote unterbreiten für Menschen mit Beeinträchtigungen.
Zweitens: Wir wollen Begegnungen schaffen, weil zwei Drittel der Menschen gar nicht wissen, was Inklusion ist.
Und drittens wollen wir Inklusion jung und fröhlich machen. Denn für viele ist das Thema nach wie vor zu sperrig. Außerdem muss es mehr Öffentlichkeit bekommen, es muss leicht, positiv und eingängig dargestellt werden. Deshalb habe ich 20 sehr bekannte Persönlichkeiten aus Deutschland gebeten, was dazu zu sagen.
Inwieweit bietet sich der Sport für Inklusion an?
Er ist meiner Meinung das größte Fenster. Weil paralympischer Sport mehr zeigen kann als Literatur oder Schauspiel. Und der Sport hat eben dieses Faszinosum, mehr Menschen zu erreichen. Wir wollen Angebote schaffen. Denn es geht nicht darum, ein ganzes Jahr lang mehr Tanzen oder Zeichnen oder was auch immer anzubieten. Damit helfen wir nicht. Denn der, der beeinträchtigt ist, sagt: Du hast wohl nicht alle Tassen im Schrank. Ihr braucht uns nicht helfen, wir kommen alleine klar. Wir wollen teilhaben. Und dieses Verständnis wird viele philosophische Talkrunden, die wir organisieren werden, mit sich bringen, weil es ein völlig falsches Verständnis auch im Wording gibt.
Dein Engagement für das Thema Inklusion soll aber über dieses Festival hinausgehen?
Ja, wir wollen nicht nur das Festival veranstalten, sondern wir wollen das „all inklusiv“ 365 Tage machen. Mir ist es nämlich wichtig, da jetzt keine Zirkusveranstaltung draus zu machen, sondern es gibt ganz viele Inhalte. Und wir wollen beraten, damit Inklusion nachhaltiger umgesetzt wird, und die Teilhabe von Menschen mit Handicap verbessert wird. Wir wollen beispielsweise auch Unternehmen erreichen. Die sagen, Inklusion ist teuer und kostet viel Personal. Stimmt. Also, wir müssen was machen. Und wir haben das große Glück, dass keiner was dagegen haben kann. Das war bis dato in meinem Leben auch selten.
Was meinst du damit?
Ich weiß, was Stigmatisierung heißt. Ich weiß, was Ausgrenzung heißt. Das kenne ich nur zu gut. Als Hochleistungssportler bist du teilweise extrem unterwegs und verhältst dich auch asozial. Wenn du den Erfolg willst, dann ist das so. Und Goethe war auch kein Gutmensch.
Stigmatisierung hast du sicher auch nach dem Ausbruch deiner Krankheit sowie der Veröffentlichung deines Buches über dein Leben mit einer bipolaren Störung im Jahr 2018 erfahren?
Ja. 1994 wurde bei mir zum ersten Mal eine Entlastungsdepression festgestellt. Wenn dein Körper von 40-Stunden-Training auf null heruntergefahren wird, hast du ja 40 Stunden in der Woche, wo du nicht weißt, was du machen sollst. Ein halbes Jahr habe ich das mitgemacht, mit allen Dramen. Dann bin ich zu einem Psychiater gebracht worden, weil ich es alleine nicht mehr geschafft habe. Und dieser hat mir einen Lösungsansatz mitgegeben.
Welchen?
Die Fachärzte sprechen von positiver Verstärkung. Das bedeutet verkürzt gesagt, dass man sich seiner Vergangenheit erinnert, was man am besten konnte, und damit fängt man wieder an. Nach einem halben Jahr bin ich aus meinem Tief herausgekommen. Aber dann habe ich 2009 so viel gearbeitet, dass es zu einem Energieverlust, so nenne ich die Depression, gekommen ist – ausgelöst durch die Scheidung und viele andere Dinge. Die Diagnose: bipolare Störung. Von da an bis 2017 war ich eigentlich durchgehend krank. Also bestimmt so acht Jahre. Drei Jahre lang war es richtig schlimm: Ich habe sicher 90 Wochen in der Psychiatrie verbracht. Und diese Zeit möchte ich nicht nochmal erleben. Aber irgendwie musst du da wieder herauskommen. Das schaffst du anfangs durch Medikamente und Therapien. Und dann musst du für dich selber eine Lösung finden. Und über diesen Ansatz möchte ich in meinem zweiten Buch schreiben, für das ich gerade einen Verlag suche.
Was hat dich in diesen dunklen Zeiten abgehalten, deine Selbstmordgedanken in die Tat umzusetzen?
Letztendlich Lebensmut. Ich habe mir gesagt, ich habe zwei Söhne. Grund, nicht Schluss zu machen.
Wenn es dir in heutigen Tagen schlecht geht, was machst du dann?
Es gibt Vorzeichen, die sich in Verlangsamung, in fehlendem Zeitmanagement, in Trägheit äußern. Daher weiß ich, wenn diese eintreten, dann ist irgendetwas nicht in Ordnung. Loriot hat mir mal in einem Interview auf meine Frage, wie er sein Pensum so schaffe, geantwortet: ,Junger Freund. Ich fange immer viel zu spät an, aber genau zum richtigen Zeitpunkt bin ich fertig.‘ So ist das auch bei mir. Aber wenn du krank bist, schaffst du es eben nicht mehr. Dann bin ich wieder Sportler. So wie du deine 15 Trainingseinheiten in der Woche machst, so baust du auch mindestens vier, fünf regenerative Maßnahmen ein. Abseits vom Schlaf, denn dieser ist der beste Regulator. Deshalb lege ich mich hin, wenn ich müde bin. Und ganz wichtig: Ich ernähre mich sehr gut und bin physisch aktiv.
Sport ist ein gutes Stichwort: Wie viel machst du eigentlich noch?
Ich fahre jeden Tag sehr viele Kilometer mit dem Fahrrad. Und jetzt im Sommer spiele ich zweimal in der Woche Beachvolleyball. Außerdem gehe ich regelmäßig ins Fitnessstudio. Also ich bin fit.
Aber alles ohne Trainingsplan?
Völlig ohne Trainingsplan, nur freudbetont. Außerdem achte ich wie gesagt auf meine Ernährung. Nach meiner schweren Krankheit war ich nämlich sehr übergewichtig. Ich habe dann meinen großen Sohn gefragt, wie man einfach abnimmt. Dann hat er gesagt: ‚Papa, nicht mit Sport, sondern achte auf das, was du in den Mund steckst, dann nimmst du mehr ab.‘ Das habe ich dann gemacht, und es sind 20 Kilogramm geworden.
Dir hilft bei vielen Dingen vermutlich deine Disziplin?
Also ich war als junger Mensch sicherlich zu diszipliniert und sicherlich auch zu egomanisch. Als Sportler und als Individuum. Jetzt muss ich das zum Glück nicht mehr sein. Aber ich habe den Mut, den man als Hochleistungssportler auch mitbringt, dass man ein bisschen Grenzen verschiebt. Und es ziehen ja Leute mit, das ist das Schöne daran.
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