Irgendwo in einer Granitwand in Grönland. Drei Kletterinnen stehen auf einem schmalen Vorsprung, müde, erschöpft. Zu ihren Füßen geht es hunderte Meter steil in die Tiefe. Über ihren Köpfen verliert sich der Fels in der Ferne. Und: Die Zeit läuft gnadenlos gegen sie. Ihnen bleibt nur ein winziges Zeitfenster, bis ein drohender Schneesturm sie zur Umkehr zwingt. Sie müssen eine Entscheidung treffen. Das Klettern einfach noch ein bisschen genießen und dann abseilen? Oder ausruhen und Kräfte sammeln in der vagen Hoffnung, es am nächsten Tag tatsächlich bis zum Ausstieg zu schaffen? Wie soll die Expedition enden, die zwei Jahre an Planung kostete? Die das gesamte Team sechs Wochen lang auf einem Segelboot zusammenschweißte, um es an diesen Punkt zu bringen?
Eine der drei Kletterinnen ist Caro North. Die Bergführerin gehört zu den renommiertesten Alpinistinnen in Europa. Bereits mit 16 Jahren steigt sie auf den knapp 7.000 Meter hohen Aconcagua in den argentinischen Anden. Es folgen Erstbegehungen in Armenien und dem Iran. Der Durchbruch in der Szene gelingt ihr spätestens 2015, als sie gemeinsam mit Christina Huber den Gipfel des Cerro Torre erreicht. Es ist die erste freie Begehung des ikonischen Granitbergs durch eine reine Frauenseilschaft.
Etliche schwierige Routen und kräftezehrende Expeditionen später möchte sich Caro einen Traum erfüllen. Die Abenteurerin zieht es zu einer Erstbegehung nach Grönland, das mit seinen imposanten Wänden zu den aufregendsten Destinationen für Bigwall-Begeisterte zählt. Das gelobte Kletterland jenseits des Polarkreises möchte sie mit dem Segelboot von Frankreich aus ansteuern. Umweltschonender als die Anreise per Flugzeug – aufregender sowieso. „Auf dem Meer ist man noch abgeschiedener als fast überall in den Bergen“, sagt Caro im Bergfreunde-Podcast „GRAT RAUS“.
Von der Idee bis zur Umsetzung ist es ein weiter Weg. Drei Monate soll die gesamte Expedition dauern. Sponsoren müssen überzeugt, Teammitglieder akquiriert werden. Auch die Suche nach einem geeigneten Expeditionsboot gestaltet sich schwierig. Die Wahl fällt auf die 15 Meter lange Northabout. Und auch die Expeditionsgruppe steht endlich: acht Frauen, davon vier Seglerinnen, drei Alpinistinnen, eine Fotografin – jede mit unterschiedlichen Stärken.
Ausgangspunkt der Reise ist das traditionsreiche Hafenstädtchen La Rochelle. Über Island führt die Route weiter bis an die Ostküste Grönlands. Wohin genau? Darüber würden letztlich die Winde entscheiden müssen. Die sind der Expedition anfangs alles andere als wohlgesonnen.
Gleich auf der ersten Etappe gerät die Northabout in einen heftigen Sturm. Mächtige Wellen klatschen gegen die Bordwand, schleudern das Boot nach oben, lassen es wieder fallen. Wind reißt unablässig an den gerafften Segeln. Nach gerade einmal fünf Tagen legt die Gruppe einen unfreiwilligen Stopp in Dublin ein. Es vergeht eine Woche, bis die Reise fortgesetzt wird.
„Bei schlechtem Wetter mit acht Personen auf einem 15 Meter langen Boot festzusitzen, ist hart“, gibt Caro zu. Die größte Herausforderung der Alpinistinnen: Wenn sie nicht klettern, geht es bergab mit der Leistungsfähigkeit. Mit einem Ausdauertrainingsplan und einem mitgebrachtem Griff-Board sollte dem Niveauverlust eigentlich vorgebeugt werden. An effektives Training ist aber nur bei ruhiger See zu denken.
Auf den Färöer Inseln kommen der Gruppe dann ernste Zweifel. Wieder Sturm, wieder Zwangspause, diesmal zehn Tage. Nach einer Joggingrunde bei Kälte und Nässe kommt die Frage auf, ob die Frauen Grönland überhaupt erreichen. Immerhin müssen sie die Rückreise vor den Septemberstürmen im Nordatlantik antreten. Durch die Verzögerungen ist die Zeit zum Klettern schon jetzt massiv zusammengeschmolzen. Einen Ausweg könnte ein Abstecher nach Norwegen bieten. Doch das Team hält an seinem ursprünglichen Plan fest. Eine gute Entscheidung? Auf Island angekommen, verdammt schlechtes Wetter die Expeditionsteilnehmerinnen erneut zum Nichtstun.
Sechs Wochen lang stellen Tiefdruckgebiete die Leidensfähigkeit der Gruppe auf eine harte Probe. Dann jedoch kommt der Augenblick, der für vieles entschädigt. „Als wir die Küste gesehen haben, war das der Wahnsinn, ein Riesenmoment“, blickt Caro auf die Ankunft in Grönland zurück. Doch etwas trübt die Freude. Der Scoresbysund, der Ort der ersehnten Granitwände, ist von Packeis verschlossen. Ein Gleitschirmflug von einem kleinen Gipfel aus kann die Wartezeit immerhin ein wenig versüßen.
Kurz darauf sticht die Northabout erneut in See. Vom Mast aus navigiert jeweils ein Crew-Mitglied durch das eisige Labyrinth am Eingang zum Fjord, vorbei an treibenden Eisblöcken, -schollen und gewaltigen Eisbergen, von denen nur die Spitze aus dem Wasser ragt. Schließlich gehen die Alpinistinnen an Land. Von nun an beginnt ein Wettlauf gegen die Uhr. Zogen sich die Stunden auf dem Boot noch wie Kaugummi, rasen sie den Frauen nun förmlich davon.
Dreieinhalb Tage lang transportieren sie Material vom Basislager am Strand zum Fuß der auserkorenen Granitwand, die mehr als 700 Meter über ihnen emporragt. Ein Gletscherbruch mit bizarren Spalten erschwert das Vorankommen. Immerhin: Der Fels der Wand scheint gut zu sein. Als sich günstiges Wetter ankündigt, beginnen die drei Frauen mit dem Aufstieg. An Ausrüstung nehmen sie nur das Nötigste mit. Jedes zusätzliche Gewicht würde sie nur verlangsamen.
Der Start verläuft vielversprechend. Dann allerdings wird die Wand steiler, am teilweise nassen Felsen geht es nur langsam voran. Jeder Meter erfordert volle Konzentration. Am zweiten Tag, nach einer Ewigkeit im Klettergurt, erreichen die Frauen ein Band. Zeit zum Durchschnaufen. Und für die richtungsweisende Entscheidung. Sie einigen sich darauf, die Nacht in schwindelerregender Höhe zu verbringen und am nächsten Tag alles daranzusetzen, bis zum Ausstieg zu kommen.
Der Morgen empfängt sie mit einem kalten Nebelmeer, das die Landschaft unter ihnen einhüllt – und die Sorge vor schlechten Witterungsverhältnissen schürt. Eilig klettert das Team los. „Die erste Seillänge war noch anspruchsvoll, dann wurde es leichter“, erinnert sich Caro. Und plötzlich ist es, als hätte sie einen Schalter umgelegt. „Wenn wir Gas geben, kommen wir mit jeder Länge 60 Meter höher, das geht relativ schnell.“ Die anderen lassen sich mitreißen. Was vor kurzem noch unmöglich schien, nimmt nun immer konkretere Formen an.
Und ist plötzlich Realität: Pünktlich um zwölf Uhr steigen die drei Frauen aus der Ostwand der Northern Sun Spire aus. „Das war der krasseste Moment“, beschreibt Caro. „Wenn Du so viel Zeit reingesteckt hast, ist eine Erstbegehung einfach so viel wert. Wenn Du sechs Wochen hingesegelt bist, ein Jahr vorher dafür trainiert hast und wir eigentlich nicht mehr dran geglaubt haben. Das war Wahnsinn.“ Seit diesem Zeitpunkt heißt die Route „Via Sedna“, genauso wie das gesamte Projekt. Die Zusammensetzung des Namens – „Via“ als italienisches Wort für Weg, „Sedna“ als grönländische Meeresgöttin – verdeutlicht die Verbindung aus Segeln und Klettern.
Lange können die Alpinistinnen ihren Triumph nicht auskosten. Sie seilen sich ab, transportieren ihr Material zum Strand, treffen die Seglerinnen, stechen in See. Hatten sie darauf gehofft, die Heimreise stünde unter einem günstigeren Stern als die Hinfahrt, sehen sie sich getäuscht. Sedna, oder welche Gottheit auch immer über die Ozeane wacht, lässt sich von den bisherigen Leistungen der Gruppe nicht besänftigen. Mit wütenden Stürmen testet sie die Kraft und den Willen der Frauen ein letztes Mal. Die halten durch – und erreichen schließlich Frankreich.
Wie übersteht man derartige Strapazen? Wie schafft man es, sich nach jedem überwundenen Hindernis gleich der nächsten Herausforderung zu stellen? „Extrem große Motivation kann extrem viel wettmachen“, sagt Caro im Hinblick auf die Erstbegehung. „Wir wussten, wir haben nur diese kleine Zeitspanne, wir müssen jetzt alles geben.“
Ein Schlüssel zum Erfolg ist während der gesamten Wochen die Gemeinschaft. „Es funktioniert gut, wenn man einander voll vertrauen kann, wenn man auch offen kommunizieren kann“, findet Caro. Dazu gehört auch, den anderen Platz zu geben und sie in Ruhe zu lassen, wenn es ihnen mal nicht so gut geht. Oder ein Gespür dafür zu entwickeln, wann jemand eine Aufmunterung braucht.
Einen gewissen Druck, die Expedition zu einem erfolgreichen Abschluss bringen zu müssen, macht sich das Frauenteam selbst. „Das ist eigentlich schade, aber weil die Welt des Expeditionssegelns und des Expeditionsbergsteigens so männerbesetzt ist, wollten wir unbedingt beweisen, dass wir das können“, sagt Caro. Vielleicht gibt genau das den Ausschlag, dass die Mitglieder bis zuletzt allen Widrigkeiten trotzen.
Caro hofft, mit dem Via Sedna-Projekt andere Frauen inspirieren und motivieren zu können. „Aus dem ganzen Team bin ich die einzige, die Profi-Athletin ist. Alle andere haben normale Jobs und haben unbezahlten Urlaub genommen. Und wir haben das trotzdem durchgezogen. Ich glaube, wenn man Träume hat, soll man alles dafür geben. Dann kann man sie auch verwirklichen.“ Selbst dann, wenn der Weg dorthin über Meere und eine 780 Meter hohe Granitwand führt.
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