Wir befinden uns in Triest, einer entzückenden Hafenstadt in Norditalien, von wo aus ich dieses Jahr im Januar 100 Meilen (168 Kilometer mit 7200 Höhenmetern) im Dreiländereck mit Slowenien und Kroatien gelaufen bin.
Und anhand dieses Ultramarathonerlebnisses möchte ich nun meine fünf ganz persönlichen Tipps für eine positive Einstellung – nicht nur in den nervenaufreibenden Zeiten von Ausgangsbeschränkung und des Social Distancing – sondern ganz generell, mit Euch teilen.
Wie geht die Sport-Branche mit der Corona-Krise um? Alle News gibt es im Corona-Ticker von ISPO.com.
Als ich meinem Umfeld berichtete, dass ich einen Ultramarathon im Januar laufen wollte, stieß ich hauptsächlich auf Gründe, warum das keine gute Idee war. „Warte lieber noch ein bisschen, dann sind die äußeren Umstände wie Witterung und Temperatur sicherlich besser für ein solches Vorhaben …”. Ganz viele 100-Meilen-Spezialisten, die noch keine 100 Meilen gelaufen waren. Jeder von ihnen mit Gründen, warum es sicher nicht klappen würde.
Doch was die anderen sagten, sollte mir egal sein und so konzentrierte ich mich auf die Fakten. Der Weg war mein Ziel, und der bevorstehende Weg war lang - die Gegebenheiten, egal wann, somit nahezu unplanbar – gesund und fit wollte ich am Tag x sein und stark im Kopf, bereit aus allen Umständen das Beste zu machen, wie auch immer das aussehen würde. Ist es jetzt nicht ganz genauso, zumindest ein bisschen?
Seit der Pandemie gibt es Leute, die es vermeintlich besser wissen. „Wie soll sich die Wirtschaft davon erholen und überhaupt, lass sie sich alle anstecken, dann sind sie zumindest immun, also wahrscheinlich.” „Die Ausgangsbeschränkung kommt zu früh.” „Jetzt ist sowieso schon alles zu spät.”
Wir wollen die Ansteckungen mindern, deswegen bleiben wir daheim und reduzieren unsere sozialen Kontakte auf das notwendige Minimum. Der bevorstehende Weg ist lang – die weiteren Gegebenheiten nahezu unplanbar – gesund und fit wollen wir alle bleiben und stark im Kopf, bereit aus allen Umständen das Beste zu machen, wie auch immer das aussehen würde.
Triest, Samstagnacht, 3 Uhr morgens am 4. Januar 2020:
Der Startschuss zu den 100 Meilen fällt. Ich fühle mich gut, bin motiviert und optimistisch – Körper und Geist fühlen sich stark!
Bayern, Freitagmittag am 20. März 2020:
Bayern verhängt eine strikte Ausgangsbeschränkung - wir alle sind motiviert und optimistisch – unsere Köpfe und Körper fühlen sich stark genug für das Unbekannte.
Triest, Samstagabend gegen 21 Uhr am 4. Januar 2020, circa 86 Kilometer nach dem Start:
Meine Beine sind schwer, mir ist kalt und ich denke an die Zweifler. Hatten sie Recht? Hatte ich mich übernommen? Gerade mal die Hälfte geschafft? Etwa nochmal so weit – wie soll das nur gehen? Warum ist es so verdammt kalt in einer klaren Januarnacht im Gebirge?
Laufen, ich muss weiter laufen, dann wird mir warm, jeder Schritt ist ein Schritt näher Richtung Zivilisation.
Bayern, Freitagabend am 27. März 2020, 9. Tag der Ausgangsbeschränkung.
Erst eine Woche rum? Wie soll das nur weitergehen? Das Ganze ist doch anstrengender als gedacht. Ich möchte wieder ins Büro … so schlimm sind meine Kollegen doch nicht und der Kaffee schmeckt in Gesellschaft auch besser.
Wie machen das die Lehrer bloß, haben die Nerven wie Drahtseilen? Wie war das nochmal mit Punkt- vor Strichrechnung?
NOCH EINE WOCHE HALTE ICH DAS SICHER NICHT AUS, ODER DOCH? Doch, ja! Es geht weiter, immer weiter. Und jeder gemeisterte Tag ist ein Tag mehr in Richtung „Normalität”.
Sonntagnacht gegen 1:00 Uhr, 5 Januar 2020 – die 100-Kilometer-Marke
Die Stille der Nacht ist erdrückend. Ich befinde mich irgendwo im Nirgendwo des slowenischen Gebirges, ganz allein. Im Schein meiner Stirnlampe blitzen die Spitzen von Panzerfangdraht auf. Die kroatische Grenze! Jetzt bloß nicht stolpern. Konzentriert bleiben. Tief durchatmen. Das Ziel visualisieren. Den Moment ausmalen, an dem mich die Strecke zurück in die Zivilisation führt.
Menschen jubeln während ich meinen müden Körper Richtung Zielbogen schleppe, Glück durchströmt mich; auch ich jubele. Nur noch wenige Meter und ich genieße sie auf meinen wackligen Beinen, freue mich über jeden, über alles, … gleich geschafft!
Alleine die Vorstellung reicht aus, meinen Körper und vor allem meinen Kopf mit neuer Kraft und Mut auszustatten.
Ich kann das, ich schaffe das! Nur noch 68 Kilometer, jetzt umdrehen wäre doch auch doof!
KW 14, Zukunftsszenario:
Die Enge der eigenen vier Wände ist erdrückend. Wir wissen, wie viele Fliesen das Bad und die Küche haben. Unsere Haut ist dünn und die Luft daheim hin und wieder zum Schneiden dick. Gefühls- und Kopfchaos. Jetzt bloß nicht stolpern. Konzentriert bleiben. Tief durchatmen. Das Ziel visualisieren.
Den Moment ausmalen, an dem unser Ausgang wieder uneingeschränkt ist. Die Macht der Umarmung vorstellen. Den Flair von kleinen Cafés ins Gedächtnis rufen. Das Gefühl von Vorfreude auf einen Freundenachmittag vergegenwärtigen. Selbstgebackener Kuchen von Oma, Geschichten vom Opa.
Allein die Vorstellung reicht aus, Kopf und Körper mit neuem Mut und Durchhaltevermögen auszustatten. Wir schaffen das! Vorfreude ist die schönste Freude.
Sonntagmorgen gegen 6:30 Uhr, 5 Januar 2020 - irgendwo zwischen Kilometer 125 und 130:
Ich brauche beide Hände, um den steilen Anstieg zum Steilküsten-Plateau über dem Golf von Triest zu meistern. Die Specksteine, überzogen von Morgentau, geben wenig Halt. Ganz langsam wird es hell, während ich den gefühlt vertikalen Anstieg erklimme. Meine Lunge brennt, die Muskeln zittern. Doch irgendwann bin ich oben. Ganz plötzlich stehe ich auf diesem Felsvorsprung und sehe, wie die Sonne über dem adriatischen Meer aufgeht, das verschlafene Triest zu meinen Füßen in warmes Licht hüllt und ganz langsam wachküsst. Ich versuche nicht meine Tränen wegzublinzeln, ich gewähre.
Nach den steilsten Anstiegen wird man mit der schönsten Aussicht belohnt. Mein Blick ruht auf der Stadt, die so viel Schönes zu bieten hat. Bald, bald auch wieder für mich. Nur noch ein Marathon. Noch einen Marathon lang die Ruhe und die Aussicht genießen.
KW 15, Zukunftsszenario:
Alle Spiele sind gespielt, alle Freunde mehrfach abtelefoniert, die „Augen viereckig” vom vielen Fernseh- und Displayschauen. Die letzten Tage waren unglaublich anstrengend. Die kleinen Freuden geben nur wenig Halt. Doch ganz langsam wird es hell, während wir diese krassen, letzten Tage durchleben. Unsere Nerven zittern, die Seele brennt. Brennt nach Nähe, Kontakten, Miteinander. Doch irgendwann ist ein Ende in Sicht, und es kommt näher. Das Ziel. Unser Ziel, unser gemeinsames Ziel.
Und dann werden wir dastehen, Zeitzeugen sein. Zeugen davon, wie Männer, Frauen und Kinder plötzlich all die kleinen Dinge, die unsere Welt zu bieten hat, wieder zu schätzen wissen. Eine schöne Aussicht, oder? Aber eben erst nach einem sehr steilen Anstieg.
Der Morgen danach, 6. Januar 2020:
Es fühlt sich unwirklich an. Meine Finger tasten nach der Medaille auf dem Nachtschrank. Hatte ich es wirklich geschafft? Ja!
Glück, Freude, Stolz, Hunger, Schmerzen, Dankbarkeit. Ich fühle alles auf einmal. Dann stehe ich auf; die ersten Schritte fühlen sich unrund an. Mein Partner sagt, ich erinnere ihn an ein frisch geborenes Fohlen, das die ersten Schritte wagt.
Wir fahren in ein kleines Café zum Belohnungsfrühstück. Die Pasticcini und Paninis schmecken besser als je zuvor im Leben. Das Lächeln der Bedienung ist Balsam für meine Seele. Noch einen Kaffee, noch eine Cola. Das Leben ist schön!
KW x, Zukunftsszenario:
Es fühlt sich unwirklich an. Wieder und wieder lesen wir das Update auf dem Handy: „Corona ist überstanden, Ausgangsbeschränkungen aufgehoben”. Hatten wir es wirklich geschafft? Ja!
Glück, Freude, Stolz, Abenteuerlust, Schmerzen der langen Einsamkeit, Trauer um die Opfer, Dankbarkeit gegenüber allen Helfern, das Schätzen der eigenen Gesundheit. Wir fühlen alles auf einmal. Dann stehen wir auf, gehen raus. Treffen uns, vereinen uns. Berühren uns. Die ersten Schritte fühlen sich unrund an, wie frisch geborene Fohlen, die die ersten Schritte wagen.
Wir verabreden uns in kleinen Cafés und Restaurants. Das Essen dort schmeckt besser als je zuvor im Leben. Das Lächeln der Bedienung ist Balsam für unsere Seelen und unseres Balsam für ihre Seele. Geben und Nehmen scheint wieder im Einklang. Noch einen Kaffee, noch eine Cola. Prost, wir stoßen an. Auf uns! Das Leben ist schön!
Bis dahin: Bleibt gesund, vernünftig und bei Sinnen
Eure Sandra
PS: Um fit für den letzten Anstieg zu sein, empfehle ich ergänzend zum Couch-Workout letzte Woche das folgende Chair-Workout
Über die Autorin: Sandra Mastropietro ist 32, lebt mit Mann und Kind (8 Jahre) im Münchner Umland und ist begeisterte Trailrunnerin. Da das mit dem “Schnellwerden” bei ihr nicht so richtig klappen wollte, ist sie auf die langen Distanzen geflüchtet und läuft seither alles zwischen 80 und 168 Kilometern - und das eigenartiger Weise immer mit einem Lächeln im Gesicht. Sandra ist Fachtrainerin für Ausdauersport, Mentaltrainerin und zu allem Überfluss auch noch Schreiberling (Buch Transalpine Run, Delius Klasing 2019 & Läuferleben, Komplett Media 2015). An allererster Stelle sieht Sie sich aber selbst als Mama.
Zu ihren größten Erfolgen zählt das 4-malige Finish des Transalpine Runs, 2x 100 Meilen beim S1 Corsa Della Bora, der Lavaredo Ultratrail, der Namibia Wild Run und das Bestehen beim härtesten Rennen der Welt: dem Dragons Back Race.
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