Home-Workout statt Fitnessclub, alleine joggen statt Vereinssport betreiben: Der Corona-Lockdown ändert das Sportverhalten der Menschen. Der renommierte Sportpsychologe Kai Engbert glaubt, dass einige der Veränderungen auch nach Ende der Pandemie Bestand haben werden.
„Der Trend weg vom organisierten Sport zum Beispiel in Vereinen hin zum individuell organisierten Sport wird sich verstärken. Und Sport als zentrale Freizeitbeschäftigung wird nicht mehr die Wichtigkeit haben wie vorher“, sagt der Diplom-Psychologe. Der ehemalige Leistungssportler hat am Max-Planck Institut für Kognitions- und Neurowissenschaften promoviert und deutsche Topsportler bei mehreren Olympischen Spielen sportpsychologisch betreut.
Speziell bei Kindern und Jugendlichen sei diese Neuausrichtung besonders stark zu beobachten. „Gerade in dieser Altersgruppe passiert sehr viel Entwicklung in kurzer Zeit“, erklärt Engbert, der mit Kollegen die Sportpsychologie München gegründet hat: „Wenn man eine Jahr lange nicht mehr Fußball mit seinen Kumpels im Verein gespielt hat, entwickeln sich andere Interessen.“
Videospiele und eSport zum Beispiel. Mit der Veränderung des Freizeitverhaltens wandelt sich auch grundlegend die Struktur der Communitys, in denen sich Menschen bewegen.
„Generell sind Communitys, das soziale Miteinander, für Menschen sehr wichtig. Ob das nun Sport oder gemeinsam Musizieren ist. Wenn das wie momentan größtenteils wegfällt, reißt das Riesenloch in den Alltag von Menschen“, sagt Engbert.
Klassische Sport-Communitys wie Vereine böten durch ihre „Regelmäßigkeit und Verbindlichkeit“ einen größeren Anreiz zum Sporttreiben als zum Beispiel das individuelle Üben in Fitnessstudios: „Viele raffen sich deshalb von der Couch hoch. Auch, weil ihnen der Austausch in der sogenannten dritten Halbzeit wichtig ist. Gerade im Breitensport ist diese soziale Motivation sehr wichtig.“
Der Lockdown im organsierten Sport werde deshalb enorme Auswirkungen haben - sowohl für die körperlicher als auch die seelische Gesundheit. „Die psychosozialen und vegetativen Folgen sind gewaltig. Sport ist eines der wichtigsten Stressventile. Wenn Sport nicht stattfinden kann, wird der Stress nicht abgebaut. Das führt zum Beispiel zu mehr Aggressionen in Familien“, hat der renommierte Sport- und Präventionsexperte Ingo Froböse dazu im Interview mit ISPO.com gesagt. Er prophezeit, dass man mit dem Sport-Lockdown „die Kranken der Zukunft“ produziere.
Kai Engbert sieht zudem Probleme für die Zukunft des Leistungssports. „Die Basis wird deutlich dünner werden, weil weniger junge Menschen Sport treiben. Also werden auch weniger junge Menschen im Leistungssport ankommen. Das wird man so in fünf, sechs Jahren spüren“, glaubt der Sportpsychologe.
Das sind die wichtigsten Sport-Communitys:
Sportvereine sind das Rückgrat des organisierten Sports in Deutschland. Im Jahr 2020 waren laut Statista 24,27 Millionen Menschen Mitglied im Sportverein. Bei Jungen zwischen 7 und 14 Jahren waren nach Angaben des Deutschen Olympischen Sportbundes (DOSB) im vergangenen Jahr sogar stolze 80 Prozent organisiert. Durch Corona und den langen Lockdown droht jedoch ein rapider Mitgliederschwund. Experten rechnen damit, dass die Vereine im Schnitt bis zu zehn Prozent ihrer Mitglieder verlieren könnten.
Das ist vor allem deshalb bedenklich, weil breitensportliche Vereine neben ihrer Rolle in der Gesundheitsförderung auch wichtige soziale Funktionen erfüllen. Sie sind ein wichtiger Antrieb, regelmäßig Sport zu treiben – auch, weil man sich dort mit Freunden trifft.
Ob Peloton, Strava, Freeletics oder Runtastic – Online-Sport-Apps sind die großen Gewinner der Corona-Pandemie. Millionen von Menschen üben daheim allein mit von Künstlicher Intelligenz (KI) gesteuerten Trainern und können sich dabei teils virtuell mit Menschen aus aller Welt messen. Das ist ein großer Vorteil dieser Angebote.
„Künstliche Intelligenz hat bereits begonnen, den Fitnesssektor zu dominieren. Menschen werden die elektronischen Ressourcen zur Verfügung gestellt, um ihre Fitnessziele zu erreichen, ohne dass eine direkte Kommunikation von Mensch zu Mensch erforderlich ist“, sagt John Persico, Gründer und Direktor der Sports Tech World Serie (STWS).
Teil zwei der Antwort birgt ein soziales Problem: Im Gegensatz zum Training in Vereinen oder Fitnessstudios braucht es beim Online-Workout keinen sozialen Kontakt. Ralph Scholz unterstreicht als Präsident des Deutschen Industrieverbandes für Fitness und Gesundheit (DIFG) für Fitness, dass „man damit die breite Masse nur bedingt“ erreiche. 85 Prozent der deutschen Bevölkerung betreiben Sport selten oder nie. Um diese wichtige Zielgruppe zu erreichen, benötigt man individuell zugeschnittene Angebote in der Realität.
Zunehmend mehr Menschen interessieren sich für Communitys, die weniger Verbindlichkeit mit den Vorteilen von Vereinen kombinieren. Der Deutsche Alpenverein (DAV) ist ein Beispiel dafür. Allein 2019 stieg die Zahl der Mitglieder um 4,78 Prozent auf 1,35 Millionen. Antrieb ist die wachsende Sehnsucht der (häufig städtischen) Bevölkerung nach Natur- und Outdoor-Erlebnissen.
Beim Alpenverein gibt es die Möglichkeit, in bestimmten Sektionen wie in einem klassischen Sport-Verein zusammen zu trainieren. Aber auch die Chance, in losen Communitys aus Familien und Freunden zum Beispiel beim gemeinsamen Wandern nur die DAV-Hütten zu nutzen.
Der Trend weg vom organisierten hin zum individuelleren Sporttreiben zeigt sich auch in offenen Sport-Communitys. Immer mehr nicht in Vereinen organisierte Menschen treffen sich zum Beispiel regelmäßig beim Skatepark, gehen zusammen auf Skitour oder klettern.
Befeuert wurde dieser Trend vor Corona-Beginn beispielsweise auch von Sporthändlern, die über soziale Medien ihre Kunden regelmäßig zum Lauf- oder Radtreff versammelten. Der Trend zur Individualisierung und weniger Verbindlichkeit hat sich durch Corona beschleunigt.
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