Mit zwölf wiegt Janine 80 Kilo, mit 14 sieht sie aus wie Obelix: Bei einer Größe von 1,72 Zentimetern bringt sie 120 Kilo auf die Waage. Tagsüber stopft sie sich mit Pizza, Eis, Chips, Toast und Schokolade voll und stürzt literweise Softdrinks hinunter. In der Nacht plündert sie heimlich den Kühlschrank und verputzt den halben Wochenvorrat.
„Ich verbringe meine Zeit mit Computerspielen. Nach dem Essen setze ich mich vor den PC und daddele, bis ich müde werde. Dann gehe ich ins Bett. Ich habe noch nie Sport gemacht, immer nur zugenommen“. Der Body-Mass-Index (BMI) des Teenagers liegt bei 40. Bei der Körpergröße wäre die Hälfte normal, was einem Gewicht von 60 Kilo entspräche. Wenn Janine ihre Lebensweise nicht radikal ändert und abspeckt, verkürzt sie ihre Lebenserwartung um zehn bis 20 Jahre.
Übergewicht ist auch bei uns ein Problem
Übergewicht und Adipositas (Fettsucht) bei Kindern und Jugendlichen sind schon längst nicht mehr in den USA, dem Heimatland von Fast Food und „Super Size Me“, ein Problem. Auch wenn hier die meisten übergewichtigen Kinder und Teenies leben. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) spricht bereits von der „globalen Epidemie des 21. Jahrhunderts“.
Nach Angaben der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) hat bereits jedes dritte Kind in den Mitgliedsstaaten zu viel Speck auf den Hüften. Der Anteil fettleibiger Mädchen hat sich laut OECD allein in Deutschland in nur fünf Jahren verdoppelt. Über 40 Prozent der Extremdicken sind hier unter 18 Jahre alt.
Von Istanbul bis Mexiko-Stadt verschwinden die Taillen und wachsen die Bäuche. In Venezuela kämpfen 65 Prozent der über 15-Jährigen mit Übergewicht, jeder Vierte ist fettleibig. Alarmierend ist laut WHO vor allem, dass immer mehr Kinder adipös sind. Auch in China ist die Zahl übergewichtiger Kinder und Jugendlicher rasant gestiegen.
Verband für Ernährung und Gesundheit alarmiert
Nach einem Bericht des Verbandes für Ernährung und Gesundheit von 2010 hat sich deren Zahl zwischen 1982 und 2002 verdreifacht – und in den vergangenen Jahren das Problem weiter verschärft. Die Ein-Kind-Politik verführt viele Eltern dazu, ihre Kinder zu verhätscheln und übermäßig vollzustopfen.
Ein wohlgenährter Sprössling gilt noch oft als Zeichen von Gesundheit und Wohlstand. Übergewicht grassiert mittlerweile wie eine Seuche. Der Wirtschaftsboom hat die Essgewohnheiten vieler Chinesen verändert, sie futtern Pommes statt Reis, Fleisch statt Gemüse.
Auch Schwellen- und Entwicklungsländer betroffen
Ein Phänomen, das man auch in anderen Schwellen- und Entwicklungsländern beobachten kann – mit dem Wohlstand halten ungesunde westliche Lebensweisen Einzug. Statt zu kochen, werden Fertiggerichte in die Mikrowelle geschoben, zwischendurch gibt es süße „Kinder“-Joghurts und kalorienreiche Snacks. Obst und Gemüse? Fehlanzeige.
Viele Kinder wissen heute gar nicht mehr, wie die Frucht oder das Grünzeug genau heißen, geschweige denn, wie sie schmecken. Untersuchungen belegen, dass die Zahl übergewichtiger und fettleibiger Teenager mit abnehmendem Bildungsgrad und Einkommen der Eltern steigt.
Eltern, die zur Erfrischung Cola trinken und zum Frühstück zentimeterdick Nutella auf den Toast schmieren, sind schlechte Vorbilder.
Übergewicht fördert Wohlstandskrankheiten
Experten sind sich einig: Die fette Gefahr hat es in sich, die steigende Zahl übergewichtiger Kinder und Jugendlicher gibt Anlass zu größter Sorge für die Zukunft. Denn: Wer in jungen Jahren zu dick ist, bleibt es oft ein Leben lang und wird spätestens als Erwachsener Dauergast beim Arzt.
Adipöse 16-Jährige leiden schon heute unter Krankheiten, wie sie sonst nur 60-Jährige bekommen. Sie quälen sich mit Diabetes, Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Nieren- und Leberproblemen und Gelenkverschleiß herum. Neben ungesundem Essen ist zu wenig Bewegung die Hauptursache für Übergewicht.
Nach einer Studie des Weltrats für Sportwissenschaft und Leibes- und Körpererziehung (International Council of Sport Science and Physical ICSSPE) soll Bewegungsmangel die Lebenserwartung von Kindern im Vergleich zu deren Eltern erstmals um fünf Jahre verringern. Nach ICSSPE-Schätzungen werden allein in China und Indien die Folgekosten des Bewegungsmangels bis 2030 um 450 Prozent steigen.
Bewegung nimmt stetig ab
Beunruhigend fallen auch die Ergebnisse einer WHO-Studie zum Gesundheitsverhalten von Schulkindern in 40 Ländern und Regionen Europas und Nordamerikas aus. Danach bewegen sich beispielsweise mehr als 80 Prozent der deutschen Jugendlichen zu wenig.
Vor allem zwischen dem elften und 15. Lebensjahr steigt die Anteil der Couch-Potatos: Während sich bei den Elfjährigen noch jeder vierte Junge und jedes fünfte Mädchen ausreichend bewegt, sind es bei den 15-Jährigen nur noch 13,6 Prozent der Jungen und 8,6 Prozent der Mädchen.
Im europäischen Vergleich gehört Deutschland damit zu den Schlusslichtern. Insgesamt sind 85 Prozent der 15-Jährigen Bewegungsmuffel, so das WHO-Ergebnis.
60 Minuten pro Tag Bewegung
„Nach internationalen Empfehlungen sollten Jugendliche über den Tag verteilt 60 Minuten so aktiv sein, dass der Pulsschlag erhöht ist und sie ins Schwitzen kommen“, sagt Gesundheitswissenschaftler Jens Bucksch von der Universität Bielefeld, wo der deutschen Teil der Studie koordiniert wurde.
„Tatsächlich erfüllen die meisten Jugendlichen nicht mal diese Minimalanforderung. Das Bewegungsverhalten hat sich in den vergangenen zehn Jahren zwar nicht weiter verschlechtert, aber auf einem sehr niedrigen Niveau eingependelt.“
Unterschiede zwischen den Geschlechtern
Auffällig auch die Unterschiede zwischen den Geschlechtern: So schneiden die Mädchen in allen Ländern noch schlechter ab als die Jungen. Den Negativ-Rekord verbuchen dabei die Italienerinnen: Mit elf Jahren schaffen noch sieben Prozent die empfohlenen 60 Minuten Bewegung, mit 13 und 15 Jahren nur noch fünf Prozent.
Woran die Bewegungsmüdigkeit des weiblichen Geschlechts genau liegt, haben die Forscher nicht untersucht. „Offenbar haben Mädchen und Jungen andere Motive und Vorlieben sich zu bewegen“, vermutet Bucksch.
„Bei Mädchen verschieben sich mit Einsetzen der Pubertät die Interessen eventuell noch extremer. Aufgrund der körperlichen Veränderungen, weil sie sich nicht wohlfühlen in ihrer Haut und sich nicht zeigen mögen, entwickeln sie wahrscheinlich eine größere Ablehnung für Bewegung und Sport. Mädchen bekommen zudem oft weniger Unterstützung, Sport zu treiben als Jungen.“
Gesundheitsgefährdend niedriges Niveau
Denn auch in puncto sportliche Aktivität haben die Bielefelder Forscher herausgefunden, verhalten sich die Geschlechter unterschiedlich: Immerhin gaben 38 Prozent der deutschen Jungen an, mindestens vier Stunden die Woche Sport tu treiben, bei den Mädchen lag der Anteil indes bei 25 Prozent.
„Die Daten sind wenig repräsentativ, wir brauchen umfassendere Untersuchungen“, fordert der Direktor des Instituts für Sportmedizin an der Universität Münster, Klaus Völker. Völker hat mit seinem Team bei dem Projekt „Alltags-Aktivitäts-Studie“ 1500 Schüler in der Region Münster untersucht und ebenfalls festgestellt, dass die Aktivität der Schüler von der ersten Klasse bis zur Oberstufe kontinuierlich abnimmt. In den höheren Klassen bewegen sich die Schüler dann „nur noch „gesundheitsgefährdend wenig.
Schulsport überfordert
Oft ist ihnen gar nicht bewusst, wie wenig“, warnt Völker. „Das zeigen die Fragebögen zur Selbsteinschätzung: Die Ergebnisse passen mit den tatsächlich gemessenen Daten überhaupt nicht zusammen.“ Auch der Sportunterricht in den Schulen vermag das nicht aufzufangen. „Eine gut geführte Schulstunde dauert 20 Minuten, der Rest der Zeit geht für deren Organisation drauf.
Wenn die Schüler Glück haben, haben sie in der Woche zweimal zwanzig Minuten Sport und das reicht hinten und vorne nicht.“ Und: In einer Sportstunde rührt sich ein Schüler im Schnitt sieben Minuten, in einer Doppelstunde zwölf, so eine Studie der FU Berlin.
10.000 Schritte als Maß der Dinge
10.000 Schritte am Tag sind das Maß für ein gesundes Leben. Diese Zahl ist Konsens bei Medizinern. Unter 5000 Schritte gelten als sitzender Lebensstil, zwischen 5000 und 7500 gilt man als wenig aktiv, zwischen 7500 und 10000 Schritten als mäßig aktiv und bei über 10.000 Schritten als aktiv. Völker: „Im Kindesalter werden noch 7000 bis 8000 Schritte erreicht, mit Beginn der Pubertät allerhöchstens 6000, Tendenz fallend.“
Grundschüler verleben neun Stunden am Tag im Liegen, neun Stunden im Sitzen und gerade mal fünf Stunden auf den Beinen, ergab eine Studie der Bertelsmann-Stiftung und der Universität Karlsruhe. In dieser Zeit bewegen sie sich zwischen 15 und 30 Minuten intensiv – mehr nicht. Statt draußen zu toben oder später im Teenie-Alter um die Häuser zu ziehen, verharren viele Heranwachsende vorm Fernseher oder vorm Computer und rühren sich nicht vom Fleck.
Radfahren ist verpönt
Statt mit dem Rad in die Schule zu fahren oder zu Fuß zu gehen, lassen sie sich von Mama oder Papa chauffieren oder steigen in U-Bahn oder Bus. „Räume werden heute nicht mehr zu Fuß überwunden, sondern häufig mit dem Auto. Die Umwelt hat sich radikal verändert und bietet wenig Anlass sich zu bewegen. Schulhöfe zum Beispiel sind nicht mehr offen gestaltet“, moniert Bucksch.
Eltern sind oft nicht unschuldig am kindlichen Müßiggang. Viele gestehen es ihrem Nachwuchs nicht zu, sich frei durch die Stadt zu bewegen, aus Angst, dass ihm etwas zustoßen könnte. Gibt es noch Orte für Kinder? Sind sie noch im Straßenbild präsent? Darf ein Elfjähriger sich zwischen Schulschluss und Musikunterricht eine Stunde allein auf dem Kiez herumtreiben?
Fest steht, Jugendliche, die sich zu wenig bewegen, werden diesen Lebensstil mit hoher Wahrscheinlichkeit auch im Erwachsenenalter fortsetzen – mit allen negativen Konsequenzen.
- Awards
- Bergsport
- Bike
- Fitness
- Health
- ISPO Beijing
- ISPO Munich
- ISPO Shanghai
- Running
- Brands
- Nachhaltigkeit
- Olympia
- Outdoor
- Promotion
- Sportbusiness
- Textrends
- Triathlon
- Wassersport
- Wintersport
- eSports
- SportsTech
- OutDoor by ISPO
- Heroes
- Sport Fashion
- Urban Culture
- Challenges of a CEO
- Messen
- Sports
- Find the Balance
- Produktreviews
- Magazin