Eine paralympische Medaille war für den Bogenschützen Baatarjav Dambadondogiin in weite Ferne gerückt, sein Start beim Wettbewerb in Peking war akut gefährdet. Denn seine Unterschenkelprothese, die er sich selbst gebastelt hatte, war gebrochen und konnte nicht mehr repariert werden.
Ein Fall für das Technikteam aus Duderstadt: Innerhalb von 24 Stunden fertigten sie ihm eine neue an. Dambadondogiin war tief gerührt. „Wir möchten dich hier gerne mit Medaille wiedersehen“, gab ihm ein Techniker auf den Weg.
Am Abend des nächsten Tages schaute Dambadondogiin wieder in der Werkstatt vorbei – mit einer historischen Goldmedaille um den Hals: Er hatte soeben für die Mongolei die erste Medaille überhaupt bei Paralympischen Spielen gewonnen.
Auf 700 Quadratmetern wird in Rio gearbeitet
Solche Geschichten sind es, für die Julian Napp arbeitet. Als technischer Direktor leitet er das 77-köpfige Paralympics-Team, das der Prothesenhersteller Ottobock aus Duderstadt nach Rio schickt.
Die Orthopädietechniker stammen aus 26 verschiedenen Ländern und sprechen 29 verschiedene Sprachen. Sie werden in Rio in einer 700 Quadratmeter großen Hauptwerkstatt arbeiten und dazu noch 13 Servicepunkte direkt an den Sportstätten betreiben.
Die Vorfreude auf Rio ist überall auf dem Firmengelände in Duderstadt zu spüren: Vom Werkseingang ins Hauptgebäude führt ein paralympischer Weg, der einer Tartanbahn nachempfunden ist.
Darauf stehen die Erfolge von Sportlern wie Deutschlands 100-Meter-Titelverteidiger Heinrich Popow oder die Information, dass zwischen Duderstadt und Rio 10.000 Kilometer liegen und der Flug dorthin 11 Stunden und 45 Minuten dauert. Julian Napp und seine Kollegen tragen weiße Poloshirts, auf denen „Passion for Paralympics“ steht.
„Die Paralympischen Spiele sind die wichtigste Veranstaltung“
„Für unser Unternehmen sind die Paralympischen Spiele die wichtigste Veranstaltung überhaupt“, sagt André Müller, der das Technikerteam für Rio organisiert.
Seit 1988 ist die Firma bei allen Paralympischen Spielen dabei. Vier australische Orthopädietechniker waren damals auf eigene Faust nach Seoul gereist. Die Karbonfedern, mit denen heute jeder beinamputierte Sportler läuft und die mehrere 1000 Euro kosten, waren gerade erst erfunden worden.
Die vier Techniker aus Down Under wollten helfen, falls es Probleme mit der neuen Technik geben sollte. Dennis Oehler brauchte hingegen weniger Unterstützung: Dem US-Amerikaner, der die neuen Prothesen als Erster eingesetzt hatte, gelang es in Korea als erstem Paraolympioniken, die 100 Meter unter zwölf Sekunden zu laufen.
Aber auch die anderen Athleten waren von der Aktion der Techniker begeistert – was auch Hans-Georg Näder nicht entging. Der Enkel des Unternehmensgründers Otto Bock und heutige Firmenchef beschloss, für die Paralympics in Barcelona vier Jahre später eine eigene Werkstatt mit zwölf Technikern einzurichten.
In Rio werden sechsmal so viele Orthopädiespezialisten vor Ort sein. Sie arbeiten in zwei Schichten von 7 bis 23 Uhr und betreiben ein 24-Stunden-Notfalltelefon. Bricht beispielsweise einem Sportler bei einem Sturz der Schaft, dieses wichtige Bindeglied zwischen Körper und Prothese, kann er auch nachts einen Techniker rufen.
Der holt die Prothese innerhalb von zwei Stunden ab und bringt sie in die Werkstatt. Kann er den Schaft nicht reparieren, macht er vom Beinstumpf des Athleten einen Abdruck. Ziel ist es, innerhalb von 48 bis 72 Stunden einen neuen Schaft zu fertigen. Jeder Athlet soll so schnell wie möglich wieder seinen Sport ausüben können.
Für die paralympische Athleten ist der Service kostenlos. Als technischer Kooperationspartner der Paralympics hat Ottobock zugesagt, dass die Sportler auch kostenlos neue Prothesen oder Rollstühle bekommen, falls ihre alten nicht repariert werden können.
Mit 16 Tonnen Ausrüstung nach Rio
Bereits im Mai 2016 füllten die Techniker drei Container mit 15.000 Ersatzteilen und insgesamt 16 Tonnen Ausrüstung: Trichterfräsmaschinen, Bandschleifer, Bandsägen, Trichterfräsen, Standbohrmaschinen und Schweißgeräte wurden verstaut.
Dazu kommen mehrere Werkbänke mit Schraubenziehern, Inbusschlüsseln, Drehmomentschlüsseln, Felgenrichtgeräten und anderen Spezialwerkzeugen. Auch 1100 Ersatzräder für Rollstühle und 100 Karbonfedern gehören zum Equipment. Per Schiff gelangten die Container von Bremerhaven nach Brasilien.
Einige Güter, etwa die Kunstharze, reisen per Luftfracht. Die Vorbereitungen für den logistischen Großeinsatz begannen bereits vor vier Jahren. Bei den Spielen von London 2012 zählten die Techniker rund 2000 Reparaturen und mehr als 10.000 Arbeitsstunden, in denen sie gebrochene Rugby-Rollstühle wieder zusammenschweißten oder defekte Karbonfedern von Prothesen austauschten. Für Rio erwarten die Techniker ähnliche Einsatzzahlen.
Bei vielen Wettkämpfen werden die Techniker eine kleine Werkstatt nahe des Spielfelds oder der Tartanbahn errichten. So können sie innerhalb von Minuten geplatzte Reifen wechseln oder schlecht sitzende Prothesen neu einstellen. So wie beim Basketballfinale der Herren in London.
Damals brach einem kanadischen Spieler im zweiten Viertel der Partie ein Teil an seinem Rollstuhl. Sofort schweißten die Techniker das Sportgerät wieder zusammen, sodass er in den letzten zehn Minuten wieder auf dem Platz mithelfen konnte, Australien mit 64:58 zu besiegen.
Nach dem Match kam die komplette kanadische Mannschaft in der Werkstatt vorbei, um sich zu bedanken. Die Techniker durften sich sogar die Goldmedaillen umhängen. André Müller freut sich heute noch: „Das sind die Momente, die die Paralympischen Spiele für uns unvergesslich machen“, sagt er.
Paralympics: Die Prothese als Placebo
Die Hauptwerkstatt wird sich auch in Rio wieder zu einem Treffpunkt für Sportler aus allen möglichen Ländern entwickeln. Auch wenn sie keine Probleme mit ihrer Prothese oder ihrem Rollstuhl haben, kommen sie vorbei und fachsimpeln mit anderen Athleten oder den Orthopadiespezialisten.
Manchmal sind die Techniker sogar als Psychologen gefragt. So kam der Ausnahmesprinter Heinrich Popow in Peking gleich mehrmals in die Werkstatt, weil er vor lauter Nervosität glaubte, dass seine Prothese nicht mehr richtig sitze. Ein Techniker hat dann den Schaft mit einem Heißluftgebläse erwärmt.
„Das war ein reines Placebo, was die Prothese überhaupt nicht verändert hat", schmunzelt Julian Napp, "aber für Heinrich fühlte sie sich besser an.“ Und mit dem besseren Gefühl am Bein gewann der 100-Meter-Läufer dann Silber.
Dieser Text stammt aus dem 1890 Allianz Magazin, dem Kundenmagazin der Allianz. Hier können Sie alle Magazine direkt downloaden. Die komplette Paralympics-Sonderausgabe ist als kostenlose App „1890 Allianz Magazin“ für Apple- und Android-Geräte erhältlich. Außerdem steht das Magazin online in der Mediathek von www.allianzdeutschland.de.
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