ISPO.com: Sie haben bei den World Para Athletics Championships 2019 in Dubai ihren eigenen Weltrekord beim Sprint über 400 Meter gebrochen. Wie hat sich dieser Lauf für sie angefühlt?
Johannes Floors: Der Lauf war einfach gigantisch. Er war so gut, dass ich mich nicht mehr daran erinnern kann. Es war eine Erfüllung des ganzen harten Trainings der letzten Jahre. Ich habe meine Bestzeit um eine Sekunde verbessert und meinen eigenen Weltrekord gebrochen und einen neuen aufgestellt. Und was mich auch etwas stolz macht ist die Tatsache, dass kein Deutscher so schnell war in dem Jahr – ob mit oder ohne Beine.
Sie wurden mit einem Gendefekt geboren, der zu einer Verformung der Füße und Wadenbeine führt. Mit 16 Jahren haben Sie sich entschieden, sich die Unterschenkel amputieren zu lassen. Wie schwer ist Ihnen die Entscheidung gefallen?
Die Situation, die ich damals hatte, war nicht mehr haltbar. Ich konnte keinen Sportunterricht mehr mitmachen und keine Schulausflüge mitmachen. Wenn ich stehen musste, waren 10 Minuten das Limit. Ich habe mit meinen Eltern und meinem Chirurgen besprochen, welche Optionen es noch gibt. Und eine war, zu amputieren – das Körperteil, das die Schmerzen verursacht, zu entfernen.
Wie war es, nach der Operation aufzuwachen?
Ich bin aufgewacht und blickte zum Ende des Bettes. Da war ja sonst immer ein Hubbel in der Bettdecke, wo die Füße waren – und der war nicht da. Ich war richtig glücklich darüber. Es war für mich kein Körperteil, das mich vorangebracht hat, sondern das Schmerzen verursacht hat. Da wusste ich, es war die richtige Entscheidung.
Was bedeutet es für Sie, jetzt mit Prothesen Laufen zu können?
Ich konnte 16 Jahre lang nicht laufen. Nach der Operation laufen zu können war für mich etwas Neues. Die ersten Schritte waren total befreiend. Die haben sich zu etwas entwickelt, das ich gerne als Fliegen beschreibe, weil diese Freiheit und diese Geschwindigkeit beim Rennen zusammenkamen.
Ihre WM-Siege haben es auch in die Tagesschau geschafft. Es ist relativ neu, dass über Behindertensport in den breiten Medien berichtet wird. Wie hat sich der Blick darauf geändert in den letzten Jahren?
Generell bekommen wir mehr Aufmerksamkeit und das Interesse steigt. Dadurch haben wir die Möglichkeit, unseren Sport mehr zu vermarkten und auch zu zeigen, zu was wir in der Lage sind. Egal, mit was für einer Behinderung: Kleinwüchsige, Armamputationen, Spastiken, Sehgeschädigte, im Rollstuhl Sitzende, die alle für sich ganz fantastische Leistungen vollbringen.
Sehen Sie sich in der Verantwortung, Vorbild für andere Menschen zu sein?
Auf jeden Fall. Ich zeige natürlich auf der einen Seite, dass mit hartem Training trotz Behinderung ganz viel möglich ist. Und auf der anderen Seite, dass man sich, egal mit welcher Einschränkung, nicht einschüchtern lassen darf. Wir Behinderte sind nicht anders und wir wollen auch nicht anders wahrgenommen werden. Wir sind Teil dieser Gesellschaft wie jeder andere auch und haben deswegen nicht das Bedürfnis, gesondert behandelt zu werden.
Sie werden öfter als der „neue Blade Runner“ bezeichnet. Wie fühlen Sie sich mit der Bezeichnung?
Den Titel geben mir andere. Er geht natürlich auf den südafrikanischen Sprinter Oscar Pistorius zurück. Das ist schon ehrenhaft, bedeutet aber auch, dass man in Fußstapfen tritt. Ich möchte meinen eigenen Weg gehen. Und ich bin guter Dinge, irgendwann einmal schneller als Oscar laufen zu können.
Schauen die Menschen anders auf eine Fehlbildung als auf eine Prothese?
Die Phase mit der Fehlbildung hatte ich während meiner Pubertät erlebt. Und Kinder sind sau-ehrlich und oft auch gemein. Mit der Prothese hat sich viel gewandelt. Mittlerweile sind Prothesen ja auch ein modisches Accessoire geworden. Während sie früher hautfarben und wie ein Bein geformt sein mussten, trägt man sie heute komplett aus Karbon, schwarz, wie sie sind. Ich habe schon welche gesehen, die habe sich da Brilli-Steine draufgeklebt, sie angemalt, Wassertransferdruck, Airbrush, alles Mögliche. Sie sind cool geworden. Tatsächlich gehen Kinder von Bekannten so weit, dass sie denken, Prothesen seien Dinge, die toll aussehen und mit denen man schneller laufen kann – weil sie es nicht besser wissen. Dann wollen sie auch eine haben. Kein Kind wird sich eine Fehlbildung wünschen.
Sie sind in einer Lage, in der sie locker mit nicht-behinderten Athleten mithalten oder diese sogar schlagen können. Sehen Sie ihre amputierten Füße überhaupt noch als Behinderung?
Ich war mit der Fehlbildung mehr behindert als jetzt. Deshalb sehe ich meine fehlenden Unterschenkel nicht als Einschränkung. Ich kann meine Fußgelenke zwar nicht bewegen, aber ich habe einen Karbonfederfuß, der das alles ausgleicht. Ich habe eine Sportprothese, die alles was fehlt ersetzt. Im Vergleich zu der Situation vor der Amputation ist das ein definitives Empowerment und ein Riesenfortschritt. Deshalb sage ich, das war die beste Entscheidung meines Lebens.
Macht es überhaupt noch Sinn, sie als Behinderten zu bezeichnen?
Ich sage oft, dass ich nicht mehr als zwei Kratzer habe. Im paralympischen Sport sind zwei Unterschenkelprothesen im Grunde nichts. Wenn ich Hosen anziehe, sieht man ja nicht mal, dass ich Prothesen trage. Im Grunde kann ich alles machen.
Beneiden Sie trotzdem manchmal Menschen, die zwei vollständige Beine haben?
Nein, eigentlich nicht. Aber es gibt zwei Dinge, die ich gerne mal wieder wahrnehmen würde. Zum einen, die Füße vom Steg ins Wasser baumeln zu lassen und zum anderen die Zehen im Sand zu vergraben. Aber das sind kleine Sachen, die es nicht wert gewesen wären, die Amputation nicht zu machen.
Welche sportlichen Ziele haben sie noch?
Mein Ziel ist ganz klar, eine Gold-Einzelmedaille bei Paralympischen Spielen zu gewinnen und noch mal schneller zu laufen.
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