Beim Besuch in der Redaktion von ISPO.com spricht er ausführlich über die Herausforderungen der Branche, seine Zeit als „Bad Guy“ und Boulderhallen-Ausflüge mit seiner Tochter.
ISPO.com: Herr Kullmann, lassen Sie uns im ganz großen Rahmen beginnen: Wie geht’s aus Ihrer Sicht der Outdoor-Branche im Moment?
Bernd Kullmann: Die Zahlen und Umsätze stagnieren – in den alten, gelernten Märkten. Genauso gibt es neue Märkte, in denen die Branche weiter wächst. Deswegen ärgere ich mich jedes Mal, wenn es heißt: Outdoor ist im Niedergang. Das ist völliger Unsinn. Ja, es gab eine Boom-Zeit in der viele Menschen mit Outdoor-Sport angefangen haben, in der sie entdeckt haben, dass etwa Wandern vielleicht konservativ klingt, in der Realität aber eine spannende Sache ist.
„Jeder von uns trägt einen genetischen Gorilla herum“
Und heute hat sich der Großteil der Menschen schon für – oder gegen – den Outdoor-Sport entschieden?
Ich gehe davon aus, dass Outdoor noch mehr Menschen begeistern kann. Gerade im Hinblick auf den Trend der Urbanisierung, des Zuzugs der Menschen in die Städte. Je städtischer das Umfeld, desto größer das Bedürfnis, in der Freizeit rauszugehen. Jeder von uns trägt einen genetischen Gorilla mit sich herum – und dieser Gorilla will an die frische Luft: Er will klettern, laufen, bewegt werden.
Dennoch: Sie erwähnten die Stagnation der Umsätze. Wieso ist das der Fall?
Ganz einfach auch deswegen weil die Produkte, die wir verkaufen, extrem langlebig sind, zeitlos. Viele Unternehmen bringen Produkte auf den Markt, deren Farben ich in drei, aber auch in zehn Jahren tragen kann. Und kaputt geht dabei auch nichts. Natürlich denkt der Kunde auch ökonomisch – und ökologisch: Warum soll er ein gutes Produkt wegwerfen, nur weil die neue Farbe ein bisschen cooler ist? Diese Zielgruppe gibt es zwar, aber die Mehrheit denkt nachhaltig. Kurzum: Ja, wir haben eine Saturierung, aber auf hohem Niveau.
Was sind Maßnahmen und Schritte für die Zukunft, um dieses Niveau weiter zu halten?
Zuerst einmal, sich mit dem Kunden jetzt und morgen zu beschäftigen und ihn dort abzuholen, wo er ist. Mit einer Ansprache, die er versteht. Und das heißt heutzutage, insbesondere bei einer jüngeren Zielgruppe: auf digitalen Plattformen. Einige Unternehmen und einige Händler machen das schon sehr gut – aber insgesamt ist hier noch sehr viel Luft nach oben.
„Für den digitalen Wandel braucht es Mut“
Es macht den Eindruck: Der digitale Wandel ist der Branche durchaus bewusst. Aber auch die Konsequenzen fürs eigene Unternehmen?
Natürlich braucht es auch Mut. Mit welchen Kommunikationswegen, mit welcher Bildsprache, mit welcher Marken-Positionierung versuche ich zu verkaufen? Viele Marken haben hier noch Hausaufgaben zu machen. Auch wir bei Deuter (Kullmann ist immer noch als Markenbotschafter tätig, Anm.d.Red.) arbeiten an diesem Thema. Mittlerweile haben alle, auch die älteren Mitarbeiter wie ich, verstanden, wie wichtig die neuen digitalen Wege sind. Für mich gab und gibt es drei absolute No-Go-Sätze, die mich seit Jahrzehnten begleiten, die jetzt wieder ganz aktuell sind.
Und die wären?
Als ich Ende der 80er zu Deuter gekommen bin, war das ein furchtbar verknöcherter Betrieb, alle sind im Anzug und mit Krawatte herumgelaufen. Und zugegeben, ich hatte schon immer Spaß am provozieren, war schon immer eher der Bad Guy als der Good Guy. Und da waren diese drei Sätze, die ich immer wieder gehört habe. Erstens: „Da könnte ja jeder kommen.“ Zweitens: „Das haben wir noch nie so gemacht.“ Drittens: „Das haben wir schon immer so gemacht.“ Grausam. Das waren Totschlag-Sätze. Ich habe zu meinen Mitarbeitern gesagt: Ich will diese Sätze nie wieder hören!
Waren Sie erfolgreich?
Ich glaube schon, dass ich ein neues Denken in die Firma gebracht habe. „Geht nicht, gibt’s nicht“ – das war mir damals schon wichtig. Wie kann ich denken, etwas zu wissen, wenn ich es nicht ausprobiere? Was auch ganz schlimm war: Jeder hatte furchtbare Angst, einen Fehler zu machen – aber natürlich geht auch mal was daneben, wenn man neue Wege geht. Das ist ganz normal. Ich wurde mal gefragt: Was waren ihre schlimmsten beruflichen Fehler? Ich habe geantwortet: Soll ich ein Buch schreiben? Mut gehört dazu, Risiko gehört dazu. Beides vermisse ich auch heute noch in der Outdoor-Branche, auf Unternehmens- wie Händlerseite.
Wo zum Beispiel konkret?
Wenn ein Händler mich fragt: Was kann ich hier an meiner Rucksackwand noch besser machen, dann sage ich: Nimm ein bisschen Kapital in die Hand und besorg dir eine Marke, die noch nicht so bekannt ist. Du musst deine Kunden überraschen. Für mich gilt: Zehn Prozent des Einkaufsbudgets ist Venture Capital. Wenn’s schief geht? Dann verkaufst du die Produkte eben zum Einkaufspreis, dann tut es auch nicht weh. Aber eines muss klar sein: Immer nur das Gleiche, das ödet die Leute an.
„Erwachsene malen Kinderbücher aus, weil sie unter Stress stehen“
Deuter war 2006 selbst gewissermaßen Teil einer Venture-Capital-Maßnahme – als das Unternehmen vom Industrie-Konzern Schwan-Stabilo gekauft wurde.
Ja, die haben damals gesagt: Wer weiß, wie lange wir mit Kosmetik, so wie als OEM-Hersteller auch sehr groß sind, und Stiften erfolgreich sind – lass uns Rucksäcke als drittes Standbein dazunehmen. Soweit scheint sich die Investition gelohnt zu haben. Und Malstifte sind gerade übrigens auch wieder sehr gefragt, aber bei Erwachsenen. Die malen jetzt Kinderbücher aus, weil sie so unter Stress stehen. Da muss ich mir doch an den Kopf fassen!
Wie meinen Sie das?
Gegen Stress gibt es doch so viel bessere Maßnahmen – draußen! Ich war selbst immer viel auf Reisen, viel in Hotels unterwegs. Aber wenn es mir mal zuviel wurde, dann bin ich eben eine Runde laufen gegangen. Da kann man abschalten, da kommt man zur Ruhe! Da muss ich doch keine Bücher anmalen. Na, für Schwan-Stabilo ist es eine tolle Sache. Man muss ihnen auch zu gute halten, dass sie immer wieder hinterfragt haben, was wir entwickelt und produziert haben: Passt das überhaupt noch zu Deuter? Und sie haben gemahnt: Für Innovationen, da kann man durchaus eine sechsstellige Summe in die Hand nehmen.
Wo kann’s denn für Deuter, für die gesamte Branche, noch hingehen: Wo sind die Lücken, die Zielgruppen der Zukunft?
Wir können noch viel mehr junge Leute abholen. Deuter zum Beispiel wird als alte Marke wahrgenommen. Alt ist schnell uncool oder Mainstream. Deswegen haben wir jetzt eine Kletterkollektion auf den Markt gebracht, die auch auf das Segment Urban Oudoor abzielt. Da haben wir keine riesigen Verkaufszahlen. Aber wir erreichen neue Interessenten, neue Kunden. Man braucht doch bloß mal in München in die Kletterhallen schauen, die platzen aus allen Nähten.
Die Boulderhallen übrigens auch.
Ja klar! Wenn wir damals solche Abenteuerspielplätze für unsere Kinder gehabt hätten! Heute überlegt sich doch jedes Elternpaar, wenn schlechtes Wetter ist: Wie können wir unsere Kinder bespaßen, damit Ruhe in der Bude ist? Und dann gehen sie in die Boulderhalle. Und haben sogar selbst noch Spaß dort. Ich bin jetzt 62 Jahre alt. Und wenn ich bouldern gehe, bin ich sofort in Kontakt mit den 20-Jährigen. Die sehen: Mensch, der alte Sack kommt ja auch rauf, so kommt man ins Gespräch und macht gemeinsam ein paar Boulder, tauscht sich aus, gibt sich Tipps. Ich sehe in meiner Halle Publikum von 10 bis 80.
„Bouldern ist eine totale Partnerbörse“
Der soziale Faktor beim Bouldern ist immens hoch.
Das ist eine totale Partnerbörse! Ich gehe da in einer alten Jeans und einem alten T-Shirt hin. Aber für die jungen Menschen, für die ist das ein Catwalk. Die stylen sich – und genießen es auch, gesehen zu werden. Perfekt zum Kennenlernen – in ungezwungener Atmosphäre. Vor einiger Zeit habe ich meine Tochter zum ersten Mal mit in die Boulderhalle geschleppt, sie hatte dann so eine hautenge Hose an, wie sie die jungen Frauen eben gerade so tragen. Nach einer halben Stunde sagt sie zu mir: „Papa, die starren mir alle auf den Hintern.“ Da sag’ ich: „Na ja, deshalb hast du die Hose doch angezogen, oder?“ Mittlerweile geht sie auch ohne mich ganz gerne zum Bouldern. (lacht)
Wobei Bouldern, gerade in traditionelleren Kreisen des Alpenvereins, durchaus gegen Widerstände kämpfen musste.
Natürlich wurde das beim DAV in Frage gestellt: Was hat das mit Bergsteigen zu tun? Aber als gelernter Sportlehrer – und genauso als Vertreter der Industrie – sage ich: Wir müssen die Leute dazu bringen, sich zu bewegen! Schulsport hilft da doch nichts. Klettern und Bouldern sind hier wunderbare Sportarten, sind Lifestyle. Und genau in diese Welt müssen die Marken noch viel weiter vorstoßen.
Um die Menschen zu echten Outdoor-Sportlern zu konvertieren?
Manche vielleicht. Aber die Mehrzahl wird wahrscheinlich in der Kletterhalle bleiben. Und wir müssen uns vielleicht ein neues, ein weiterentwickeltes Bild von Outdoor und den Kunden machen. Outdoor, das war lange: Leiden, Kälte, Einsamkeit. Aber damit erreiche ich doch heutzutage niemanden mehr. Fragen Sie mal meine Kinder, wie ich ausgesehen habe nach einer langen Tour – und wie sie reagiert haben. Beide wären niemals draußen zum Klettern mitgekommen. Aber sie bouldern jetzt. Outdoor braucht Spaß-Sportarten, Outdoor braucht den Community-Aspekt. Wenn ich an einem Sport keinen Spaß habe, sondern ihn nur mache, damit ich gesund bleibe, dann halte ich das nicht lebensbegleitend durch.
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