Ingo Froböse war früher selbst Spitzensportler und gewann bei den Deutschen Leichtathletik-Meisterschaften 1981 Silber über 100 Meter. Jetzt ist der inzwischen 63-Jährige Professor für Prävention und Rehabilitation und wissenschaftlicher Leiter des Zentrums für Gesundheit durch Sport an der Deutschen Sporthochschule Köln.
Vor seinem Auftritt auf der ISPO Munich Online (1. bis 5. Februar) beschreibt Froböse im Exklusivinterview die tiefgehenden gesundheitlichen und psychosozialen Konsequenzen der „Stay-at-home“-Strategie.
ISPO.com: Ingo Froböse, der Corona-Lockdown dauert immer länger und wird weiter verschärft. Sporttreiben wird immer schwieriger. Wie ist Ihre Meinung als Gesundheits- und Präventions-Experte dazu?
Ingo Froböse: Ich finde es dramatisch, was gerade passiert. Im letzten Jahr waren es schon drei Monate, in denen Sport und Bewegung weitgehend eingeschränkt wurden, jetzt sind es seit dem 2. November schon wieder bald vier Monate und ein Ende ist nicht abzusehen. Wir produzieren die Kranken der Zukunft und provozieren Entwicklungsdefizite bei Kindern.
Aber sind die weitgehenden Einschränkungen des Sporttreibens aus Infektionsschutzgründen nicht gerechtfertigt?
So lange wir nicht genau wissen, wo die Erkrankungen genau herkommen, können wir auch nicht pauschal ganze Bereiche schließen. Jeder weiß, dass körperliche Aktivitäten gut für das Immunsystem sind. Warum ist es nicht möglich, Tennis in der Halle ohne jeden Körperkontakt zu spielen, wenn nur jeder zweite Platz besetzt und Duschen geschlossen werden? Warum kann man im Fußball nicht Trainingsformen ohne Körperkontakt nutzen, um Technik und Taktik zu schulen? Warum darf Reiten nicht stattfinden?
Individuelles Sporttreiben wie Joggen oder mit Abstand Fahrradfahren ist doch eigentlich komplett möglich. Auch die Fitnessstudios haben ihre Hausaufgaben in Sachen Infektionsschutz gemacht. Die Gefahr entsteht doch nicht in erster Linie beim Sporttreiben, sondern bei den Wegen zum Sport. Es ist doch viel gefährlicher, wenn viele Personen dicht an dicht im Bus oder der U-Bahn stehen, als wenn sie unter Beachtung aller Abstandsregeln Sport treiben.
Welche Folgen erwarten Sie durch die „Stay at home“-Strategie der Politik?
Ich habe dazu schon mehrere Gutachten geschrieben. Wir produzieren damit vulnerable Gruppen. Es gibt zum Beispiel Untersuchungen zum Gewichtszuwachs in der Pandemie: In Berlin sind es durchschnittlich drei bis vier Kilogramm pro Person. Mindestens genauso dramatisch ist der Verlust motorischer Entwicklungsschritte bei Kindern.
Für Wachstumsprozesse und die Entwicklung bestimmter kognitiver Fähigkeiten braucht es Bewegung. Um zum Beispiel das Knochenwachstum anzuregen, müssen Kinder springen und hüpfen. Aber die Schulen sind geschlossen und selbst, als sie noch geöffnet waren, gab es weitgehend keinen Sportunterricht. Da wurden pauschal mit dem Rasenmäher Maßnahmen erlassen ohne nachzudenken. Dabei bleiben die Kinder genauso auf der Strecke wie zum Beispiel 800.000 Menschen mit geistiger Behinderung in Deutschland, die körperliche Bewegung brauchen, um ihre Emotionen auszuleben.
Es gibt neben physischen also auch psychische Folgen der Sporteinschränkungen durch Corona…
Die psychosozialen und vegetativen Folgen sind gewaltig. Sport ist eines der wichtigsten Stressventile. Wenn Sport nicht stattfinden kann, wird der Stress nicht abgebaut. Das führt zum Beispiel zu mehr Aggressionen in Familien.
Obwohl der Sport in Sachen sozialer Stabilität und Immunabwehr also eine wichtige Rolle in der Bekämpfung der Corona-Pandemie spielen könnte, scheint er in der öffentlichen Diskussion derzeit keine Rolle zu spielen…
Momentan wird alles von einer kleinen Gruppe von Virologen und Intensivmedizinern dominiert. Der Deutsche Olympische Sportbund spielt in der Diskussion dagegen keine Rolle genau wie wir Experten für Sport und Prävention. Das ist ein Skandal! Aber man braucht sich darüber nicht zu wundern: Politiker wie Scholz, Altmaier oder Lauterbach haben keinen richtigen Bezug zum Sport.
Aber der Profisport wie die Fußball-Bundesliga wurde von der Politik doch zugelassen…
Das ist die Strategie Brot und Spiele wie im alten Rom. Schauen dürft ihr, aber nicht selbst spielen. Dabei ist doch zum Beispiel die derzeit laufende Handball-WM mit all den ganzen Corona-Fällen eine echte Farce. Über die Wertigkeit des Sports für die Gesundheit spricht momentan niemand. Dabei ist Prävention durch Sport die einzige Chance, um die galoppierenden Kosten des Gesundheitssystems in den Griff zu bekommen.
Man könnte in der derzeitigen Situation auch sehr gut darüber aufklären, wie man mit einer gesunden Ernährung das Immunsystem unterstützen kann. Stattdessen wird die Impfung zum einzigen Ausweg aus der Pandemie hochstilisiert. Immer unter dem Motto: Du wirst dick, dumm und gefräßig, aber musst nichts tun. Und ganz klar gesagt: Ich werde mich auch impfen lassen, aber Medikalisierung kann nicht die einzige Lösung sein.
Haben Sie solch eine sportfeindliche Phase schon einmal in Ihrem Leben erlebt?
Noch nie. Wir sind momentan nur noch ein Land der Wirtschaft. Das Ehrenamt bleibt auf der Strecke. Die Vereine verlieren viele Erwachsene und Kinder. Und die werden nicht mehr zurückkommen, weil sie andere Optionen in der Online-Welt gefunden haben. Die Sportstätten verlieren ihre Wertigkeit, weil sie als angebliche Krankheitsfortschreiber zu Unrecht negativ stigmatisiert werden und somit die Relevanz verlieren. Das wird auch in Sachen Finanzierung künftig schwierig, weil Sportstätten in der Wertigkeit der Politik und der Kommunen nach hinten gerückt sind. Das alles ist kontraproduktiv für unsere Zukunft.
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