Sie sind von Geburt an blind – und Ihre Lieblingsfarbe ist Hellblau?
Ja, auch meine Welt ist bunt. Ich habe die Farben wie ein Sehender im Kopf. Wenn wir beide uns einen zweifarbigen Apfel, die eine Hälfte schwarz, die andere dunkelblau, denken, haben wir ein Bild von diesem Apfel im Kopf, obwohl keiner von uns ihn je gesehen hat.
Wie machen Sie das?
Mein Gehirn weiß nicht, dass ich blind bin. Es baut sich seine Realität mithilfe der übrigen vier Sinne schmecken, tasten, hören und riechen zusammen – und das geschieht in ganz anderen Dimension als bei einem Sehenden. Der Sehende verlässt sich zu 80 Prozent auf visuelle Eindrücke, für die anderen Sinne bleibt kaum Raum. Dabei arbeitet gerade der Sehsinn unzuverlässig und lässt sich leicht täuschen – zum Beispiel von bunten Werbebildern. Das Sehen wird maßlos überschätzt. Ein Blinder aber kann auch ohne Augen „sehen“, wenn er die übrigen vier Sinne gleichmäßig nutzt, um sich ein Bild von der Welt zu machen.
Ohren, Nase, Mund und Hände funktionieren bei Ihnen also zuverlässiger als bei einem Sehenden. Eine provokante Frage: Sind Sie manchmal sogar im Vorteil?
Ich würde nie sagen, dass ich besser bin, nur weil meine Wahrnehmung anders funktioniert. Mein erster Seilpartner war 1988 der Bruckner Hans, ein Wahnsinnsbergsteiger. Damals war es für mich noch sehr schwer, einen Partner am Berg zu finden. Aber der Hans hatte den Mut und das Unternehmerherz, mit einem 22-jährigen Blinden auf Tour zu gehen. Die Leute erklärten ihn für verrückt. Er kriegte wahnsinnige Probleme: Dein Haus wird sowieso versteigert, wenn da was passiert, ein Blinder hat in den Bergen nichts verloren. Und dann sagte der Hans: Geht einmal selbst mit dem Andy klettern, dann könnt ihr das beurteilen. Ihr wisst ja gar nicht, wovon ihr sprecht: Wenn ich mit einem Blinden am Seil hänge, ist die Seilschaft wesentlich breiter aufgestellt, als wenn ich das mit einem Sehenden tue. Kann der zweite Mann auch sehen, ist das Spektrum mehr oder weniger gleich. Aber ein Blinder sammelt ganz andere Eindrücke.
Wie bereiten Sie sich auf eine Tour vor?
Ich suche mir zehn, zwölf Berichte von anderen Bergsteigern. Ich werte sie aus, präge mir alles ein: Wo rauscht ein Bach, nach wie viel Kletterstunden muss man wo abbiegen, wie ist der Zugang zum Fels? Außerdem fährt meine Frau mit meinem Finger auf der Karte die Strecke ab, so entsteht eine virtuelle Skizze in meinem Kopf. Bei den Wetternachrichten konzentriere ich mich auf das, was zwischen den Zeilen steht.
Wieso zwischen den Zeilen?
Wenn es heißt, nördlich der Alpen gibt es leichten Föhn, bedeutet das: Es kommt eine Südströmung aus dem Mittelmeerraum, und so kann kein Wind von Norden kommen. Mit dem Wissen gehe ich in die Route. Sollte sich ein Gewitter nähern, sind Atmosphäre und Luft völlig unterschiedlich geladen, das spüre ich. Auch auf Luftfeuchtigkeit reagiere ich: Ich fühle, die Luft ist brutal trocken, eher feucht oder elektrisch angehaucht. Jemand ohne Übung nimmt das wahrscheinlich erst wahr, wenn es blitzt und donnert. Ich aber kombiniere Kleinigkeiten, hinter denen eine Logik steckt. Theoretisch weiß ich genau, es muss ein Gewitter kommen, während mein Partner meint, nein, alles okay, der Himmel ist doch blau. Sind wir dann über den Berg geklettert und haben Sicht in die andere Seite, müssen wir sehen, dass wir schnell runterkommen, weil alles voller dunkler Wolken hängt. Dann sage ich, das habe ich mir schon gedacht.
Mit diesem Wissen bringen Sie auch die Leute in Ihren Vorträgen zum Staunen.
Schwachsinn, das ist ja keine Geheimwissenschaft. Vom Staunen hat niemand was. Die Leute sollen gar nicht denken, jetzt habe ich wieder einen kennengelernt, der besser ist als ich. Meine Botschaft lautet: Macht was aus euren Möglichkeiten. Und macht nicht alles mit den Augen, sondern nutzt auch eure anderen Sinne. Am Berg zählen Teamgeist, Partnerschaft: Man muss wissen, allein kommt man nicht weiter, aber mit einem anderen zusammen, überallhin.
Was begeistert Sie noch am Bergsteigen?
Die Entschleunigung – im siebten Schwierigkeitsgrad kann man nicht wie ein Sprinter laufen. Wenn wir in 7.000 Metern Höhe einen Hang hochstapfen, fahren auch meine sehenden Kollegen die Geschwindigkeit komplett runter. Das kommt einem Blinden zugute, weil er so einige Millisekunden pro Schritt für eine Analyse gewinnt. An einer Steilwand gibt es kein Tempo mehr. Da unten im Tal muss ich jeden Schritt zack, zack machen und ein Bein vor das andere setzen, das ist für mich viel schwieriger. An der Steilwand indes sind nicht nur meine Füße, sondern auch meine Hände direkt am Boden. Die Fortbewegung auf allen vieren ist für mich leichter als der aufrechte Gang.
Sie haben sechs der Seven Summits erklommen. Fehlt Ihnen der Mount Everest?
Ich mache im Jahr so 200 Touren, dabei sind wesentlich spannendere dabei als die Seven Summits. Sechs der Gipfel habe ich bestiegen, um auf allen Erdteilen das Essen, die Kultur und die Menschen kennenzulernen. Das war für mich der Reiz, in der Antarktis auf dem Mount Vinson ist es anders als in Afrika auf dem Kibo. Ich habe schon auf anderen Achttausendern meine Spuren hinterlassen – die Seven Summits sind doch nur ein Marketing-Gag aus den 80er Jahren.
Ihre Eltern haben Sie als Kind mit dem Rad zur Schule fahren lassen und sind mit Ihnen und Ihrer ebenfalls blinden Schwester wandern und Skifahren gegangen.
Ich habe ständig gebettelt und gefordert: Machen wir dies, machen wir das. Und meine Eltern waren verzweifelt, aber entschlossen, uns alles zu ermöglichen, solange sie das konnten. Wenn sie alt wären, wären ihre Kinder sowieso einsam und allein, glaubten sie. Natürlich wussten sie eigentlich nicht so genau, wie man mit unserer Behinderung umgehen soll. Aber an meinem Temperament haben sie Kraft geschöpft. Ich bin immer vorgeprescht, blaue Flecken und blutige Knie konnten mich nicht davon abhalten. Hoppla, haben meine Eltern gedacht, da geht ja was. Das hat dazu geführt, dass sie die kuriosesten Sachen – Skifahren, Eislaufen, Rodeln, Bergwanderungen, Schwimmen – angegangen sind – immer mit Rückmeldung von uns Kindern. Wie geht es ihnen? Was macht ihnen Schwierigkeiten? Was klappt besonders gut?
Und dann haben Sie Ihre Leidenschaft fürs Klettern entdeckt?
Ja, das war etwas, was mir leicht fiel. Je steiler der Weg, umso besser konnte ich den Untergrund mit meinen Händen ertasten. Mit neun habe ich meinen ersten Felsberg erobert und das Gipfelkreuz angefasst. Der Gedanke, dass es noch steilere und gewaltigere Berge geben könnte, hat mich seitdem nicht mehr losgelassen.
Was hat Sie angespornt?
Ich brauche Informationen von außen. Meine Schulkameraden sahen aus dem Fenster und vor ihnen lag die Welt. Wenn ich etwas „sehen“ wollte, musste ich raus, um es zu begreifen. Ich wollte mir selbst ein Bild von der Welt machen. Daran hat sich bis heute nichts geändert. Meine Sicht reicht, wenn man so will, nicht weiter als eine Armlänge: Ich sehe mit meinen Fingern. Also muss ich dahin gehen, wo ich etwas von der Welt erfahren will. So erschließe ich mir auch die Berge, über deren Nord-, Ost-, Süd- und Westseite, über Kanten und Ecken, nur so bekomme ich das komplette Bild zusammen. Einen Berg greife ich, bis ich ihn begreife: Ich klettere ihn nicht einmal hinauf, sondern ich versuche ihn aus allen Richtungen zu erfahren, bis ich ihn auswendig kenne und quasi ein 3-D-Puzzle in meinem Kopf zusammensetzen kann.
Wie fühlen Sie sich, wenn Sie ganz oben auf dem Berg sind?
Oben am Gipfel ist alles frei und luftig. Am Gipfel anzukommen, das bedeutet für mich, wieder einen Tag erlebt zu haben, der mir gezeigt hat, die geistige Kraft steht über der körperlichen, und mit Genuss etwas Schwieriges geschafft zu haben. Menschen, die mit gesunden Augen ständig zu Hause vor der Flimmerkiste sitzen und sich ihr Weltbild von ARD und ZDF generieren lassen, verstehe ich nicht.
Was ist Ihnen wichtig? Wovon träumen Sie?
Mit jedem Jahr, das dazukommt, ich bin jetzt 47, denke ich, wie unwichtig man ist. Wer dauernd nach Rekorden strebt, wem es nur um schneller, höher, geiler geht, der ist leider auf dem falschen Weg. Ziel des Lebens ist es nicht, der Schnellste zu sein. Ziel ist es, selbst sein Leben gestalten zu können, ohne Zwänge. In unserer hektischen Zeit aber ist alles durchgetaktet. Wenn am zweiten Urlaubstag irgendetwas mit dem Wetter nicht stimmt, kriegen die Leute Stress. Ein Gefühl von Freiheit zu spüren, einen unstrukturierten Tag genießen zu können, das ist das wahre Glück. Wenn ich nicht Profibergsteiger wäre, könnte ich sicher nicht so denken. Die Leute glauben, sie können sich das nicht leisten. Aber vielleicht sollten sie es tun und auf locker schalten. Es gibt keine Institution, die verantwortlich für dein Leben ist. Egal, ob du in einem Riesenkonzern am Fließband stehst oder zum Vorstand gehörst. Du darfst niemals einen anderen für dein Glück verantwortlich machen, niemals.
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