Auf eigene Faust ins unverspurte Gebirge: Bei einer Tourenwoche im georgischen Kaukasus finden nicht nur Freeride-Profis filmreife Abfahrten – gerade für bescheidenere Abseits-Skifahrer werden auf den Höhenzügen Svanetiens Tiefschneeträume wahr
Auf eigene Faust ins unverspurte Gebirge: Bei einer Tourenwoche im georgischen Kaukasus finden nicht nur Freeride-Profis filmreife Abfahrten – gerade für bescheidenere Abseits-Skifahrer werden auf den Höhenzügen Svanetiens Tiefschneeträume wahr
Der eingewehte Hang im mittleren Teil des Berges hat gehalten. Die Senke, die danach folgt, ist auch kein Problem. Danach sind es noch drei, vier steile Spitzkehren, die wir in die fein gemusterte Schneeoberfläche treten müssen – in diese Kalligraphie aus regelmäßigen Wellenlinien, die der Wind über Nacht in die gesamten Nordhänge der Gvibari-Kette gemalt hat. Ein Schriftzug, von dem wir uns so sehr wünschen, dass er uns mitteilen möchte: „Sei willkommen, Wanderer.“ Und den man mit ein bisschen Erfahrung in Sachen Schnee und Sturm eigentlich als deutliche Warnung lesen muss: „Halt ein, sonst bläst dich eine Lawine ins Tal, wo du hingehörst, Menschlein!“
Doch dann stoßen wir auch schon durch die Wechte auf den Grat, der auf etwa 3000 Meter Höhe in Ost-West-Richtung verläuft. Mit einem letzten Schritt hinauf öffnet sich ein Blick, der uns den keuchenden Atem verschlägt. Unter uns warten 1000 Höhenmeter kalter, gepresste Pulverschnee auf unsere ungebremste Abfahrt. Den Horizont auf der anderen Talseite im Norden bilden die Eiswände des über 5000 Meter hohen Shkhara. Im Süden staffeln sich die Bergketten bis in die Ebene zum Schwarzen Meer. Und würde man den Grat, den wir gerade erklommen haben, noch eine Stunde weiter nach Osten steigen, erreichte man jäh abfallende Schneerücken, von Couloirs und Klippen durchsetzt, so steil, dass man das Gelände gerade noch befahren kann.
Wir haben keine Ahnung, ob das schon mal jemand versucht hat. Aber das Potential, das der georgische Hohe Kaukasus Skifahrern bietet, bestätigt sich bei der ersten Live-Ansicht dieser unglaublichen Bergketten. Wenn wir uns hier oben einmal im Kreis drehen, sehen wir einen endlosen Kamera-Schwenk aus einem Alaska-Freeski-Film – aber irgendwie auf 200 Prozent gezoomt. Die Gipfel: böser. Die Faces: länger. Die Gegend: wilder. Ganz so wie in dem Video, das uns im letzten schneearmen Frühwinter aufgefallen war: „Ushba“ zeigt, wie eine Gruppe um den Schweizer Extremskifahrer Samuel Anthamatten im Frühling 2017 die Nordwand des Berges Ushba mit dem markanten Doppelgipfel erstbefahren will. Für die Abfahrt ist es zu eisig. Dafür fliegen die Freeskier mit dem Helikopter unbefahrene Supersteilhänge hier in der Gegend an, die sie in riesigen Speedturns hinunterrasen. Schöner kann man nicht scheitern.
Das Tolle an einer Wintereise nach Georgien: Es lohnt sich auf jeden Fall. Völlig egal, wie der Schnee ist
Natürlich träumen auch wir von Erstabfahrten und filmreifen Powerlines, aber in Ermangelung von Helikoptern und professionellen Freeride-Skills wollen wir es mit eher entspannten Skitouren versuchen. Trotzdem fühlt sich unsere kleine Georgien-Expedition gleich wie ein Abenteuer an. Aus der Hauptstadt Tbilissi geht es mit einem Nachtzug, der einem mit sehr wenig Budget gedrehten Wes-Anderson-Remake entsprungen sein könnte, durch die Ebene nach Westen. Eine ruckelige Mini-Busfahrt führt durch schneefreie Waldtäler weiter ins Hochgebirge. Detailliertes Kartenmaterial: wird gerade für den touristischen Gebrauch erstellt. Bergrettung: muss man sich selbst drum kümmern. Wir haben ein paar Kartenausschnitte von Bekannten, die im Vorjahr hier waren, auf dem Telefon. Und eine E-Mail von Audun, einem Norweger, der seit einigen Jahren Skitouren in der Gegend organisiert, gerade aber nicht im Land ist: Gute Bedingungen dieses Jahr, schreibt er, viel Schnee, stabiler Scheedeckenaufbau und regelmäßige Schneefälle. Den Rest wollen wir vor Ort erfragen – und so gut die Verständigung gerade mit jungen Georgiern in den Tälern auch funktioniert: je weiter wir uns den ganz hohen Bergen nähern, desto komplizierter wird auch das.
Das Tolle an einer Wintereise nach Georgien: Es lohnt sich auf jeden Fall. Völlig egal, wie der Schnee ist. Das Land am Rand der Alten Welt, das schon bei den Griechen auftaucht (die Suche nach dem Goldenen Vlies führte die Argonauten nach Kolchis, an die Hänge des Kaukasus), dampft seine reiche Geschichte und Kultur förmlich aus. Es ist gut möglich, dass der Weinbau vor Tausenden von Jahren hier erfunden wurde. Die Küche ist so legendär, dass es in der Sowjetunion ab einem gewissen Elitestatus unter all den Gleichen zum guten Ton gehörte, eine georgische Gattin zu haben – die Georgierinnen galten nicht nur als die besten Köchinnen, sondern noch dazu als die schönsten Frauen im ganzen Reich. Der georgische Mann wiederum gilt als entspannte Schäfernatur, zumindest, wenn es nach einen Schöpfungsmythos geht, den Georgier gerne selbst über sich und ihre Heimat erzählen: Als Gott die Welt erschaffen hatte, verteilte er sie unter den Menschen. Den schönsten Flecken bewahrte er für sich selbst. Nur einer hatte die Verteilung verschlafen. Er bekam dann das kleine Land, das Gott eigentlich für sich vorgesehen hatte – der erste Georgier.
Tatsächlich ahnt man es schon während der Anreise in die Berge: Georgien ist so etwas wie eine Mini-Erde. Fast alle Landschaften, die man sich vorstellen kann, sind auf der Fläche Bayerns komprimiert. Von den Palmen der Schwarzmeerküste sind es nur 150 Kilometer bis zum Grenzkamm des Großen Kaukasus, der das Land als 5000 Meter hohe Mauer von Russland trennt. Und natürlich ist es vor allem diese Mauer, die dafür sorgt, dass eine Winterreise nach Georgien mit sehr großer Wahrscheinlichkeit auch unter skifahrerischen Gesichtspunkten ein Erfolg wird. Der Kaukasus ist, nicht nur für Helikopterskifahrer, ein Winterwunderland. Zwar sind nur ein paar wenige Skigebiete über das Land verteilt. Im Kleinen Kaukasus gibt es zwei Ressort mit reichlich Pulverschnee vor allem im Hochwinter und interessanten Powder-Runs, die mit dem Snowcat angefahren werden. Im Hohen Kaukasus liegt Gudauri, an der alten russischen Heeresstraße, recht gut von der Hauptstadt zu erreichen – mit Potential auch auf ganz hohe Berge. Die Perle ist jedoch Svanetien: aufsteigend gestaffelte Bergketten, mit engen, kaum zugänglichen Tälern und den höchsten Gipfeln des Landes. Im Sommer mittlerweile eine Trekking-Region, die immer beliebter wird. Im Winter immer noch: weitgehend leer.
Wir spielen mit der Sonneneinstrahlung, der Hangneigung, der Windrichtung. Tendenz: auf die Risikobremse treten. Ein paar Tage vor unserer Ankunft wurde hier in Ushguli ein Tourengänger verschüttet
„Die ganze Saison war die Schneedecke stabil“, erzählt Shako Margiani, Mitte zwanzig, fit, schlank, bestens ausgerüstet und informiert – und auf eine angenehme Art klar und auf Augenhöhe, wenn man ihn nach seiner Einschätzung der aktuellen Situation in Svanetien fragt. Wir treffen den jungen Bergführer in Mestia, dem Ausgangspunkt wintersportlicher Unternehmungen in Svanetien. „Aber letzte Woche hat es mit viel Wind geschneit, und es kommt noch mehr.“ Er rät uns zur Vorsicht, gibt uns noch ein paar Empfehlungen für Tagestouren und wünscht uns viel Glück.
Immerhin scheint das Skigebiet am Tetnuldi noch geöffnet zu haben – eine Information, die man von außerhalb des Landes nicht mit letzter Sicherheit gewinnen konnte. Es ist neben Gudauri das einzige im Großen Kaukasus – und am Tag unseres Besuchs geradezu absurd leer. Vielleicht liegt es an der etwas eigenwilligen Erreichbarkeit: Um zur Tal(!)-Station zu gelangen, muss man erstmal vom Zentrum Mestias, dessen Häuser wie in einer Westernstadt beidseitig der einzigen größeren Straße aufgereiht sind, eine halbe Stunde mit dem Taxi den Berg hinauf fahren. Das wäre eigentlich unkompliziert, weil morgens Sammeltaxis warten und man recht einfach Fahrgemeinschaften bilden kann. Wer sich jedoch bei seiner Ankunft in Mestia zu einem der Guest Houses fahren lässt, riskiert, dass der Fahrzeugführer davon ausgeht, dass man ihn für den gesamten Aufenthalt in der Region als eine Art Mischung aus Chauffeur und Fremdenführer gebucht hat. Zumindest unser erster Fahrer, der die Statur eines Braunbären hat, lässt wenig Zweifel daran, dass er fest damit rechnet, uns am nächsten Tag wieder zu seinen Kunden zählen zu dürfen. Seine ohnehin tiefe Stimme rutscht noch weiter in den Bauch, als er sich bei der Ankunft am Parkplatz des absurden Skigebiets auf Svanetisch mit seinen Kollegen austauscht. Einer meiner Brüder murmelt: „Vorsicht, er spricht die Sprache der Orks.“ Wir sind zwar zu dritt, sagen aber vorsichtshalber zumindest die Rückfahrt nach Mestia zu.
Ein letzter Blick auf das überwältigende Weltklassepanorama. Dann nehmen wir die wellengezeichnete Nordabfahrt vom Gvibari-Grat ins Visier
Der erste Sessellift transportiert den Besucher eher näher an den Berg heran als höher hinauf. Doch ab Lift zwei geht es auf einmal tatsächlich nach oben: über hübsch kupiertes, von lichtem Wald durchsetztes Gelände hinweg, durch das sich nur wenige, kaum befahrene Pisten winden. Und schließlich hinauf bis auf über 3000 Meter unter die Wände des Tetnuldi. Der Neuschnee der letzten Tage liegt hier oben perfekte dreißig, vierzig Zentimeter hoch. Nach ein paar Warm-Up-Runs wagen wir uns in einen Kessel auf der Rückseite des Skigebiets, den man von einem kleinen Gipfelaufbau in fast alle Richtungen durch teils steile Couloirs erreichen kann – und der aufgrund des Triebschnees nicht ganz sicher wirkt. Wir toben uns einen ganzen Tag aus und haben sogar noch Gelegenheit, in Richtung Osten ein Stück in die Hänge zu queren, von denen aus wir die Bergketten sehen, die von Anfang an das Ziel unserer Reise waren: Das Tourengebiet rund um das Dorf Ushguli, ganz am Ende der im Winter geöffneten Passstraße.
Als wir an Tag drei der Reise nach zwei weiteren Stunden haarsträubender Fahrt in einem kein bisschen unterforderten Geländewagen in Ushguli aussteigen und das Gepäck über eine Holzbrücke in den ältesten Teil der Siedlung schleifen, kommen wir uns vor, als würden wir ein Filmset für eine noch unveröffentlichte Staffel von „Game of Thrones“ betreten: Vor einem fahlen Winterhimmel stehen schwarze Türme mit winzigen Schießscharten. In den schmalen Gassen macht eine Mischung aus Kuhdung und Schneematsch jeden Schritt zu einem Balance-Akt. An einer Scheunentür lehnt schweigend ein Mann schwer zu schätzenden Alters und mustert uns, ohne die Miene zu verziehen. Zwischen den Gemäuern drängen sich Kühe und Pferde. Schweine wühlen mit der Schnauze durch den angefrorenen Schlamm. Auf den Mauern patrouillieren Wölfe. Stimmt nicht. Es sind kaukasische Hirtenhunde. Für Wölfe sind sie zu groß.
Ushguli mit seinen Wehrtürmen aus dem 12. Jahrhundert ist Weltkulturerbe – trotz der finsteren Geschichte der Türme, die an eine Tradition erinnern, die sich niemand zurück in die Gegenwart wünscht.
Ushguli mit seinen Wehrtürmen aus dem 12. Jahrhundert ist Weltkulturerbe – trotz der finsteren Geschichte der Türme, die an eine Tradition erinnern, die sich niemand zurück in die Gegenwart wünscht. Tatsächlich dienten sie weniger als Zuflucht vor einfallenden Räuberbanden – sondern vor den lieben Nachbarn, die aus Blutrachegründen vor der Haustür lauerten; oft aufgrund von Lappalien, teils über Monate, sogar Jahre. Ganze Familien sollen sich in den Türmen verschanzt haben, bis ein Deal gefunden war oder ersatzweise ein anderer Verwandter erschossen. Aber es soll kein falscher Eindruck entstehen: Gegenüber uns Reisenden sind die Georgier und gerade auch die Svanen ein überaus herzliches, beinahe beschämend gastfreundliches Volk. Als wir in Mestia mit einer Familie über ihre Lebensumstände plaudern wollen, werden wir am hellen Nachmittag mit einem kleinen Festmahl empfangen, hausgemachter Wein, Obst, Gebäck. Und die Hausherrin der Familie, die hier in Ushguli ein Guesthouse betreibt, das sich etwas hochgestapelt als „Hotel“ bezeichnet, tischt uns jeden Abend auf, als würde es am nächsten Tag in die alles entscheidende Schlacht gegen die Russen gehen. Es gibt wenig Befriedigenderes nach einem Tag auf dem Berg als eine frisch gebackene Kubdari, die svanetische Variante des hausgemachten, gefüllten Brots, das sonst überall in Georgien als Khachapuri mit Käse gefüllt ist, hier aber mit Knoblauch, Kreuzkümmel, Koriander- und Fenchelsaat gewürztem Fleisch.
Das Tourengelände vor den mittelalterlichen Türmen ist beliebig skalierbar. Während es am Tag unserer Ankunft noch wolkenverhangen und trüb ist, lassen sich schon am nächsten Tag erste Löcher in den Wolken erkennen, schließlich reißt es komplett auf. Wir spielen mit der Sonneneinstrahlung, der Hangneigung, der Windrichtung. Tendenz: auf die Risikobremse treten. Ein paar Tage vor unserer Ankunft wurde hier in Ushguli ein Tourengänger verschüttet. Puh. Shako, der Bergführer aus Mestia, hat uns zumindest für diese Woche von jeder Art von Alaska-Lines abgeraten, auch und gerade, weil filmreifes Gelände hier recht einfach auch ohne Aufstiegshilfen zu erreichen ist. Auf unserer rudimentären Handy-Karte hatten wir sogar eine perfekte Mehrtagestour zusammengestellt, mit Übernachtung in noch kleineren Weilern als Ushguli, wo im Winter nur ein, zwei Familien ausharren. Aber es soll ja bitte nicht das letzte Mal gewesen sein, dass wir in das schönste Land der Welt reisen. Im Winter natürlich.
Ein letzter Blick auf das überwältigende Weltklassepanorama. Dann nehmen wir die wellengezeichnete Nordabfahrt vom Gvibari-Grat ins Visier. Wir checken unsere Lawinenpiepser und fahren den ersten Hang schnell und locker in den Beinen bis zur Kante, hinter der es einmal etwas steiler wird. Von oben lassen sich die fahrbaren Linien gut erkennen, wir versuchen, die steilsten Stellen heute zu vermeiden. Tatsächlich reißen oberflächlich ein paar Triebschneebretter an, aber alles in allem fühlen sich die Bedingungen handhabbar an. Der Schnee ist richtig schnell, und obwohl wir uns ans mittelsteile Gelände halten, ist die Abfahrt so gut, dass wir auf der Hälfte beschließen, gleich nochmal hinauf zu steigen.
Vielleicht schaffen wir es ja heute zum ersten Mal, das svanetische Abendessen aufzuessen.