Highlinen ist eine Spielart des Slacklinens - Friedi Kühne will sie bis zur Perfektion beherrschen. Und das muss er auch, denn wenn er Free Solo unterwegs ist, hilft kein Sicherungsseil. Verrückt? „Nein, im Gegenteil”, sagt er.
Highlinen ist eine Spielart des Slacklinens - Friedi Kühne will sie bis zur Perfektion beherrschen. Und das muss er auch, denn wenn er Free Solo unterwegs ist, hilft kein Sicherungsseil. Verrückt? „Nein, im Gegenteil”, sagt er.
Die Visitenkarte von Friedrich Kühne ist schon was Besonderes. „Professional Slackliner“ steht da unter einer Gebirgslandschaft, und als man den Fliegendreck von der weißen Wolke wischen will, erkennt man erst, dass der Krümel im Bild der Besitzer der Visitenkarte ist, irgendwo in der Luft über eine fast unsichtbare Slackline balancierend.
Per Sicherheitsnadel hat er einen Stoff an der Karte befestigt: ein zeigefingerlanges Stück seiner Weltrekord-Line, Polyester, 2,5 Zentimeter breit. Während des Gesprächs wird man das Ding nicht mehr loslassen und sicher mehr als drei Dutzend Mal den Kopf schütteln: Auf diesem daumenbreiten Garnichts ist er 110 Meter weit über die 200 Meter tiefe Verdonschlucht balanciert – und das auch noch Free Solo, ohne Sicherung. Geht's noch? Wie verrückt, durchgeknallt und lebensmüde ist der denn?
Wenn ich genug geübt habe, gibt es keinen Grund zu fallen.
Nun, Friedrich Kühne, den alle Friedi nennen, ist nicht verrückt, sondern Gymnasial-Referendar, Mathe und Englisch. Der 29-Jährige ist auch nicht durchgeknallt, vielmehr außergewöhnlich klar im Kopf, eloquent dazu, und für einen Lebensmüden hat er definitiv noch zu viel vor.
Warum er dann so was macht? „Weil es der ultimative Vertrauensbeweis an einen selber ist, eine Loslösung von allen Abhängigkeiten und Zwängen, pures, simples, reines Slacklinen. Und wenn ich genug geübt habe, gibt es keinen Grund zu fallen.“ Friedi Kühne hat verdammt viel geübt. „Ich laufe immer erst mit Klettergurt und zwar oft. Wenn ich beim zehnten Mal catchen muss, also mit der Hand nach der Line greife, dann laufe ich nochmal zehn Mal und lege dann erst den Gurt weg. Ich will Perfektion, will die Highline beherrschen.“ Derzeit gibt es niemanden, der das besser kann.
Highlinen ist eine Spielart des Slacklinens – mit dem Unterschied, dass gefahrloses Abspringen nicht mehr möglich ist. Noch dazu ist die Highline nur halb so breit wie die sogenannte Trickline, die man in Parks und Grünanlagen oft sieht. Entstanden ist die Seiltänzerei in den 80ern im Yosemite-Nationalpark, als Zeitvertreib und Koordinationsübung der Free Climber.
Übers Klettern kommt auch der Oberbayer Kühne aufs Seil: „Zuerst fand ich's furchtbar – weil ich's nicht von Anfang an konnte, weil's mir schwer fiel. Niemand kann das von Anfang an! Man muss üben und durch die Frustrationsphase durch – ich bin da mit Trotz durch.“ Die Lernkurve sei steil, sagt er: „Wenn man mal laufen kann, kann man sich auch umdrehen oder rückwärts gehen.“
Es folgen erste Sprünge, Tricks, Salto von der Slackline, dann mit Weichbodenmatte drunter Salto auf der Slackline. „Irgendwann hab' ich gemerkt: 'Das ist mein Sport! Slacklinen macht mich stärker.' Ich war süchtig.“
Heute ist es völlig egal, ob die Highline 50 oder 500 Meter hoch ist. Es ist eher so: je höher, länger und ausgesetzter desto Kick.
Ein paar Jahre turnt er auf der Trickline rum, bestreitet Wettbewerbe, gewinnt den ersten Sponsor – und wagt sich auf eine Highline, in der Wolfsschlucht bei Rosenheim: 30 Meter hoch, 25 Meter lang. „Ich hab' krass gezittert und geschwitzt, für einen Schritt zehn Sekunden Überwindung gebraucht, bin immer wieder stehen geblieben, ein paar Mal in die Sicherung gestürzt. Heute würde ich da in 20 Sekunden rüber marschieren.“
Wo bleibt da der Spaß? „Wenn man drüben ankommt, ist die Belohnung riesig. Der Höhenrausch ist unfassbar, vom Kick her nicht zu überbieten. Man wird euphorisch, wie nach einer harten Kletterroute. Der Gipfel ist ja nichts wert, wenn man nichts dafür tun, nicht aus der Komfortzone musste.“ Wer nur noch ein paar hundert Meter Luft unterm Hintern hat, der ist in der Tat weit weg vom Wohlfühlbereich. Und dann ist da noch die Höhenangst: „Die hat jeder“, sagt Kühne, „ich hab's abgebaut und in den Griff bekommen. Angst ist Trainingssache. Heute ist es völlig egal, ob die Highline 50 oder 500 Meter hoch ist. Es ist eher so: je höher, länger und ausgesetzter desto Kick.“
Grenzen? Nicht in Sicht. Als es für Kühne nicht höher und weiter geht, fängt er an, Tricks auf der Highline zu machen: hin und her schwingen, hoch und runter bouncen, sein Limit immer weiter pushen. Er sagt: „Manche sehen den Kick darin, die Konsequenz zu erhöhen. Ich habe die Sicherung irgendwann weggelassen – weil so viel Selbstsicherheit besteht und man fest davon überzeugt ist, dass man laufen kann, ohne zu fallen.“
Sofort schränkt er ein: „Das ist aber nicht zu empfehlen und auch nicht der Standardweg. Man kann mit Sicherung genauso viel Spaß haben.“ Bei keinem seiner Free-Solo-Videos auf Youtube fehlt daher die schriftliche Warnung, dass Free Solo nicht das ultimative Ziel beim Highlinen sei und er niemanden dazu ermutige.
„In Interviews sage ich immer: Hey, passt auf: Free Solo ist nicht irgend so ein Coolness-Instagram-Bullshit. Da führt ein langer Weg hin. Das muss jeder für sich selbst rausfinden, Eigenverantwortung übernehmen. Free solo ist die persönliche Entscheidung jedes Einzelnen.“
Seine Entscheidung fällt nicht spontan. Über ein Jahr tastet er sich heran, läuft erst mal ohne Sicherung zehn Meter über Wasser: „Das überlebe ich, kann aber weh tun.“ Dann fünf Meter über Grund: „Da breche ich mir vielleicht das Bein, kann das aber noch kontrollieren.“ Dann ohne Gurt, aber mit Sicherung ums Bein: „Das überlebt man, aber es tut so weh, dass man es vermeiden will.“
Die Todeskonsequenz verändert nämlich nochmal alles, lässt Kühne zum Einzelgänger werden: Seine erste Free-Solo-Line vor vier, fünf Jahren in Tschechien (20 Meter zwischen zwei Sandsteintürmen) läuft er allein. „Ich wollte das für mich rausfinden“, erklärt er, „ich mache das für mich und für sonst niemanden! Free Solo bedeutet sich selbst kennenlernen, mir vertrauen lernen. Da brauche ich keine anderen Leute dabei. Es ist ja meine eigene Verantwortung, und die will ich niemand anderem auflasten.“
Jahrelang verheimlicht er die ungesicherten Touren, vor allem vor der Familie. Nur die engsten Kumpels sind dabei: „Die wissen, dass mir nix passiert.“ Drei Jahre lang gilt für ihn die Regel: Free Solo und Kamera? Is' nicht! „Es ging mir auch darum, mir zu beweisen, dass ich es aus den richtigen Gründen mache, nicht falsch motiviert bin“, sagt er. Doch dann kommt ihm dieser Weltrekord in Kanada in die Quere.
Du kennst deine Fähigkeiten am besten, bist mit dir selbst mehr im Reinen, hast plötzlich Mut für ganz andere Sachen. In den Tagen danach kann dir so Alltagszeug nichts anhaben, da schwebt man drüber.
Slackline-Freunde, die er in der Zeit als Assistant Teacher in Portland, Oregon kennengelernt hatte, haben einen ganz besonderen Spot ausgekundschaftet: die Hunlen Falls in British Columbia, 400 Meter hoch, freifallend, mitten in der Pampa, nur mit Wasserflugzeug erreichbar. Zwei Wochen lang balancieren die elf Slackliner vor diesem Naturwunder auf und ab - bis Friedi Kühne irgendwann meint: „Ich mach' das jetzt! Ich hab' Bock drauf.“ Sprach's, legt den Gurt ab und läuft 72 Meter weit Free Solo, entlang des monströs rauschenden Wasserfalls – Weltrekord vor prima Kulisse.
Sein Gefühl? „Eine Euphorie, die ich bis jetzt mit nichts anderem vergleichen kann. Wie bei dem Spiel, wo man sich nach hinten fallen und von einem anderen auffangen lässt - als würdest du das mit deinem Klon spielen. Das ist Perfektion. Du kennst deine Fähigkeiten am besten, bist mit dir selbst mehr im Reinen, hast plötzlich Mut für ganz andere Sachen. In den Tagen danach kann dir so Alltagszeug nichts anhaben, da schwebt man drüber.“
Doch da ein Dokumentarfilmer dabei ist, wird es Zeit für die Beichte daheim: „Meine Mutter fand das gar nicht cool, mein Vater ist insgeheim stolz. Beide wissen, dass sie mit mir nicht diskutieren können. Sie vertrauen mir extrem, wissen, dass ich keinen Blödsinn mache. Insofern ist da Akzeptanz und Toleranz. Aber gefeiert wird das nicht.“
Ein Jahr nach dem Rekord folgt schon der nächste: 110 Meter in Südfrankreich. „Es war schon mein Traum als erster Mensch die 100-Meter-Marke zu knacken“, gibt er zu, „die Dauer der ultimativen Konsequenz ist halt länger. Man darf während der rund zehn Minuten im Kopf nicht kleinbeigeben, muss ständig gegen andere Gedanken kämpfen. Und bloß nicht denken: 'Gleich hab ich's geschafft!' Das ist Gift. Immer im Moment bleiben! Danach braucht das Hirn eine Auszeit, weil man innerlich so viel mit sich sprechen muss, weil man den Gedanken keinen freien Lauf lassen darf.“
Und was tut gegen die Todesangst? „Hatte ich noch nie! Dazu darf es nicht kommen. Dann würde ich sofort aufhören.“
Tut er aber nicht. Zwei, drei Jahre traut er sich auf diesem Niveau noch zu, schließt auch einen weiteren Free-Solo-Rekord nicht aus, will aber nichts erzwingen. Reich wird auch der weltbeste Slackliner nicht. Sponsoren finanzieren Reisen nach China, Brasilien oder Russland, aber seine Rechnungen zahlt Kühne mit Shows, Workshops und Vorträgen über Risiko-Management, den Schritt ins Unbekannte oder die Überwindung von Grenzen.
Und nach dem Vortrag geht’s raus auf die Slackline: „Da werde ich immer wieder Zeuge von Glücks- und Erfolgserlebnissen, was mich dann wiederum glücklich macht, wenn ich meine Erfahrungen weitergeben und Leute motivieren kann.“ Und das kann er, dieser Friedi Kühne. Die Line im Garten ist schon gespannt...