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Lernen von den Besten

Geheimes Gipfelfressen im Wetterstein

  • Johanna Stöckl
  • 28. Mai 2019
Credits Titelbild: Adidas

Vergangenen Sommer plante Michi Wohlleben nonstop und möglichst schnell den gesamten Wettersteingrat zu überschreiten. Dabei musste der 28-jährige Profialpinist aus Deutschland eine 70 Kilometer lange Strecke im hochalpinen Gelände laufend und kletternd überwinden – und 7000 Höhenmeter 


Jahrelang spukte das Vorhaben bereits in seinem Kopf herum: Einmal den gesamten Wettersteingrat am Stück zu überschreiten! 2018 hat Michi Wohlleben seiner kühnen Idee endgültig alles andere untergeordnet. Für das trainingsintensive Mammutprojekt quälte sich der 28-jährige Berg-Allrounder wie verrückt. Sechs Monate lang. Ende Juli vergangenen Jahres konnte er das Vorhaben erfolgreich abschließen. Dabei ist ein beeindruckender Film „Wetter Stein Grat“ entstanden, der in Kürze auf diversen Filmfestivals und im Herbst auch in einer längeren Fassung auf Servus TV präsentiert wird. OutDoor-Society-Autorin Johanna Stöckl war zur Vorpremiere im Sporthaus Schuster geladen.

Michi Wohlleben im felsigen Wetterstein
Große Berge, kleiner Bergsteiger mit großer Leistung
Bildcredit: Adidas / Adidas

Weltklasse vor der Haustür

Die Einladung zum Pre-Screening kam überraschend. In den einschlägigen Bergsport-Medien gab es bisher keine einzige Meldung zu dieser starken Leistung. Auch auf Wohllebens Instagram Account mit über 16.000 Followern, schwieg der gebürtige Baden-Württemberger bis zum München-Event Mitte Mai beharrlich: „Wir wollten erst darüber sprechen, wenn auch der Film dazu fertig ist“, erklärt der zurückhaltende Alpin-Allrounder, der mit seiner Familie mittlerweile in der Schweiz lebt. Dennoch: Kaum hatte Wohlleben ein erstes Bild zum Projekt gepostet, gratulierte auch schon der derzeit beste Bergläufer der Welt, Kilian Jornet himself: „Great!!“

Wohllebens Projekt im Wettersteingebirge führt – anders als die Expeditionen der Besten  – eben nicht in die entlegensten Winkel dieser Erde, sondern fand mehr oder weniger vor seiner Haustür statt: „Ich lebe als Deutscher zwar mittlerweile an der Grenze zwischen Österreich und der Schweiz. Die Zugspitze allerdings erreiche ich nach wie vor deutlich schneller als die Eiger-Nordwand.“

Michi Wohlleben läuft über 7000 Höhenmeter durch das Wetterstein-Gebirge
Michi Wohlleben beim „Gipfelfressen“ im heimischen Wettersteingebirge
Bildcredit: Adidas / Adidas

Als Wohlleben am 25. Juli 2018 um 1.30 Uhr in Schanz im Leutaschtal startete, setzte er sich eine Zeit von unter 35 Stunden als Ziel. Im Laufschritt hieß es in der Dunkelheit rauf auf den Kamm und dann „Gipfelfressen“: Untere bzw. Obere Wettersteinspitze, Rotplatten-Spitze, Wettersteinwand, Musterstein etc. Sechs amtliche Zweitausender galt es alleine bis zum ersten Verpflegungsstopp auf der Meilerhütte zu überwinden. Über 30 (!) weitere Gipfel werden folgen. Bei einem sagenhaften Sonnenaufgang eröffnete sich erstmals der Blick auf die Zugspitze in weiter Ferne: „Ich wünschte, das Gelände bis dorthin nicht zu kennen, wusste jedoch fast auf die Minute genau, wie lange ich bis dorthin noch brauchen würde.“

Ich wusste, jedes Tröpfchen, das ich in der Hitze zuviel ausschwitze, kann mich Kopf und Kragen kosten
Michi Wohlleben

Nächste Herausforderung: Steigende Temperaturen. Um Rekorde dieser Art aufzustellen, muss man „light & fast“, also leicht und schnell unterwegs sein. Trailrunning-Schuhe, T-Shirt, kurze Hose. Im Rucksack: GPS-Gerät mit integriertem Rescue-Sender, Stöcke, dünne Daunenjacke, lange Laufhose, leichte Windjacke, weiter nichts. Drei Depots hatte Wohlleben vorher angelegt, dort Getränke und ein paar Riegel verstaut. „Meine Flüssigkeitszufuhr war perfekt eingeteilt. Ich wusste, jedes Tröpfchen, das ich in der Hitze zuviel ausschwitze, kann mich Kopf und Kragen kosten, weshalb ich das Tempo drosseln musste.“ Zwischen Meilerhütte und Gatterl warteten erneut unzählige Gipfel: U.a. Partenkirchner Dreitorspitze, Leutascher Dreitorspitze, Schüsselkar, Scharnitz-Spitze, Oberreintalschrofen, Großer und Kleiner Hundsstall, Hochwanner etc. Das Terrain? „Teilweise ging es durch brüchiges Gelände mit Kletterpassagen, die im Führer mit Schwierigkeiten im 4. und 5. Grad beschrieben sind. Man klettert zwar nie durchgehend, aber klettertechnisch kniffelige Stellen kamen immer wieder. Am Schüsselkar, an den Scharnitzspitzen, am Wetterwandeck, am Teufelsgrat, an den Plattenspitzen, zu guter Letzt am Blassengrat ganz viele.“

Der Reiz des Wettersteins: Für Michi Wohlleben ging es um den sportlichen Reiz
Bildcredit: Adidas / Adidas

Einsamkeit im Wetterstein

Was reizt am Wetterstein? „Es ist grandios, ein schwieriges Projekt mehr oder weniger vor seiner Haustür zu finden. Das Wettersteingebirge ist von ein paar bergtouristischen Hotspots abgesehen ein extrem einsames, wenig begangenes Massiv.“ Außerdem, so der 28-jährige Bergsportler: „Da ich privat und als Bergführer oft im Wettersteingebirge unterwegs bin, kannte ich mich relativ gut aus.“ Zudem hat ihn die Gratlinie, die aus der Luft betrachtet einem Hufeisen gleicht, fasziniert. „Vor etwa 10 Jahren gelang Tom Höck, einem versierten Kletterer aus Bad Kohlgrub die komplette Überschreitung in 4,5 Tagen. Ich wollte das Projekt nonstop versuchen.“

Dafür musste Wohlleben gezielt trainieren. Die 6-monatige Vorbereitung war hart. „Es ging darum, den Fettstoffwechsel so ökonomisch wie möglich zu gestalten, sodass man bei Anstrengung möglichst wenig essen muss, sich der Körper auf die Langzeitbelastung einstellt.“ Konkret bedeutete das: Eine brutale Schinderei! „Du machst z.B. einen 3-stündigen Berglauf, setzt am Folgetag trotz Müdigkeit eine 4-stündige Laufeinheit drauf. Du musst den Körper daran gewöhnen, auch im ermüdeten Zustand Höchstleistung zu erbringen.“

Michi Wohlleben am Wettersteingrat bei Nacht
Auch der Einbruch der Dunkelheit ist für Michi Wohlleben kein Grund für eine Pause. Erst ein Gewitter kann ihn stoppen
Bildcredit: Adidas / Adidas

7 Stunden Zwangspause

Als Wohlleben nach etwa 45 Kilometern und 18 Stunden die Gatterlköpfe erreicht, hat eine hohe Quellwolkenbildung die Temperaturen sinken lassen. Trotz bester Wetterprognosen baut sich über der Zugspitze eine gewaltige Gewitterzelle auf. Minuten später: Donner, Hagel, Wind und Sturm. Sieben lange und kalte Stunden harren Michi und sein Trainer Alex Scherl, der ihn ab dem Gatterl begleitete, in einem Felsunterschlupf aus, bevor der Regen abklingt und sie den Weg fortsetzen. An eine Zeit unter 35 Stunden ist nicht mehr zu denken.

Ist Michi Wohlleben ein kreativer Kletterer? Die Antwort gibt es in diesem Video

Und am Ende? „Besoffener in einer fremden Stadt“

Dennoch: Im Eilschritt ging’s nach der unfreiwilligen Pause weiter: Über den Schneefernerkopf auf die Zugspitze, über den Jubiläumsgrat weiter Richtung Blassengrat, den Wohlleben bestens kennt: „Den anspruchsvollen Grat habe ich oft gemacht. Leider nur in Aufstiegsrichtung. Wir stiegen ihn ab.“ Was macht eigentlich der Kopf bei so einem Gewaltmarsch? „Am Schluss fühlte ich mich beinahe wie ein Besoffener in einer fremden Stadt, der nicht weiß, welche U-Bahn er nehmen muss, um sein Hotel zu erreichen, dessen Namen er nicht kennt.“ Nach 40 Stunden erreicht Wohlleben das Ziel in Hammersbach. Zufrieden? „Zieht man die unfreiwillige Pause von 7 Stunden ab, wäre die ursprünglich anvisierte Zeit möglich gewesen. Vielleicht versuche ich es ja irgendwann erneut. Mittlerweile glaube ich, dass man es sogar unter 24 Stunden schaffen könnte.“