Ariane Stäubli ist eine der wenigen weiblichen Bergführerinnen weltweit. Sie kämpft mit hohen Gipfeln – und steilen Vorurteilen. Ein Gespräch über Geschlechterrollen am Berg
Ariane Stäubli ist eine der wenigen weiblichen Bergführerinnen weltweit. Sie kämpft mit hohen Gipfeln – und steilen Vorurteilen. Ein Gespräch über Geschlechterrollen am Berg
OutDoor Society: In der Schweiz gibt es aktuell rund 1250 aktive Bergführer – darunter nur 39 Frauen. Woran liegt das?
Ariane Stäubli: In den Clubs und Verbänden wird eine sehr starke Tradition gelebt. Man spricht viel von Erstbegehungen und den ersten Bergführern, man kleidet sich bei Feierlichkeiten entsprechend in der traditionellen Kluft der Erstbesteiger. Viele Rollenvorbilder sind männlich, und das Bergsteigen lebt von diesen Heldengeschichten. Die Bergführer-Ausbildung ist außerdem stark auf den technischen, körperlichen Teil fokussiert, das schreckt manche Frauen ab. Dabei hat der Beruf des Bergführers auch sehr viel damit zu tun, den „Mensch zu führen“. Dieser Teil wird viel zu wenig hervorgehoben.
Es wird oft davon gesprochen „einen Berg zu bezwingen“ oder „Gipfel zu stürmen“. Sind vielleicht auch die Alpinismus-Narrative für Frauen abschreckend?
Das auch. Und viele Frauen trauen sich auch heute noch das Führen nicht zu – nicht, weil sie es nicht können, sondern weil sie einfach nicht zum Führen erzogen worden sind. Von Frauen wird eher erwartet, dass sie einfühlsam, hilfsbereit und sanft sind. Dass das „Führen“ immer noch männlich dominiert ist, fiel mir erst spät auf. Ich war als junger Mensch schon immer mit meiner Gruppe unterwegs – praktisch nur Jungs – aber ich war dort akzeptiert und integriert. Dass ich eine Frau bin, war kein Thema. Erst mit der Zeit, als ich die Führungsrolle übernommen habe, ist mir aufgefallen: Wow, da ist kaum jemand anderes, der weiblich ist.
Die Bergführerausbildung ist ein System, das von und für Männer gemacht worden istAriane Stäubli
Hattest Du je das Gefühl, dass Du als Frau noch mehr „deinen Mann stehen musstest“, um unter den männlichen Bergführerkollegen akzeptiert zu werden?
Nein, mir wurden keine Sonderaufgaben auferlegt. Mit der richtigen Technik und mentaler Stärke kann man viele körperliche Schwächen abfangen. Außerdem kennt und schätzt man sich unter Bergführerkollegen, das ist wie eine kleine Familie. Fakt ist trotzdem: Die Bergführerausbildung ist ein System, das von und für Männer gemacht worden ist – Männer machen die Prüfungen, legen die Limits fest, und als Frau muss man nach den Regeln dieses männergemachten Systems spielen. Im ganzen Expertenfeld gibt es noch keine einzige Frau.
Mentale Stärke hast Du auch während deiner Ausbildung zur Bergführerin gebraucht…
Ich bin bei einer Skitour 500 Höhenmeter abgestürzt. Wie durch ein Wunder habe ich überlebt, aber mein Knie war komplett kaputt, alle Bänder gerissen. Die Ärzte haben gesagt, dass ich froh sein kann, wenn ich überhaupt jemals wieder ohne Krücken gehen kann. Aber es gab für mich keine Alternative, keinen Plan B. Ich wusste, ich muss da durch. Und nach einem Jahr stand ich wieder auf Skiern. Wenn dich etwas so glücklich macht, wie mich das Bergsteigen, dann kannst du das nicht einfach abklemmen und sagen: „Ich lasse das jetzt sein."
Bemerkst Du verschiedene Verhaltensmuster von Frauen und Männern in Extremsituationen?
Weniger in Extremsituationen, als im normalen Umgang. Da kommen wieder diese gelernten Verhaltensweisen ans Licht: Frauen neigen eher dazu nachzusteigen, der Mann ist meistens der erste am Seil und klettert vor. Es gibt außerdem kaum reine Frauenseilschaften an den 4000ern. Die Demut und das Staunen über die faszinierende Gebirgswelt erfassen dann aber alle gleichermaßen.
Ist Demut eine wichtige Eigenschaft?
Auf jeden Fall. Der Berg hält mir immer wieder einen Spiegel vor: Manchmal muss ich mir eingestehen, dass ich zur falschen Zeit am falschen Ort bin, dass die Witterung nicht stimmt oder dass ich der Situation technisch nicht gewachsen bin. Wobei ich es manchmal auch ganz schön finde, wenn mir etwas Größeres sagt: „Bis hierhin und nicht weiter." Der Mensch wird in den Bergen sehr klein, dadurch entsteht viel Platz für anderes. Das Umkehren lernen ist allerdings eine der schwersten Übungen. Erst mit der Zeit habe ich gelernt, dass auch ein Tag, an dem ich umkehren muss, ein schöner Tag ist und der Gipfel dann in den Hintergrund rückt. Wenn man jung und ehrgeizig ist, dann zählt nur der Gipfel, nicht der Weg dorthin.
Die meisten Gäste haben noch ein klares Bild, wie ein Bergführer auszusehen hat: Sie stellen sich einen großen, kräftigen und stämmigen Mann mit Bart vorAriane Stäubli
Gab es schon Gäste, die im ersten Moment überrascht waren, wenn Du dich als Bergführerin vorgestellt hast?
Da gibt es manchmal lustige Situationen: Einmal habe ich einen Gast am Bahnhof in Empfang genommen, und dem ist der Kinnladen runtergefallen: „Was? Du bist ja nur halb so schwer wie ich, wie soll das gehen?“ Er hatte Angst, dass ich ihn nicht halten kann. Ich habe das mit Humor genommen und ihn mit Ruhe und Fachkompetenz davon überzeugt, dass es genug Sicherungsmöglichkeiten am Berg gibt. Ich entspreche einfach nicht dem Bild, das die meisten Gäste vom klassischen Bergführer haben: Sie stellen sich einen großen, kräftigen, stämmigen Mann mit Bart vor. Das ist aber natürlich auch Gewöhnungssache, viele wurden bisher nie mit einer Frau als Bergführerin konfrontiert. Ich finde es wichtig und spannend, diese Bilder aufzubrechen und zu verändern.