Mehrere Wochen lang wanderte unser Autor als Jugendlicher im strömenden Regen durch Norwegen. Bis heute der größter Fail seines Outdoor-Lebens – aber ein Härtetest der unerwarteten Art
Mehrere Wochen lang wanderte unser Autor als Jugendlicher im strömenden Regen durch Norwegen. Bis heute der größter Fail seines Outdoor-Lebens – aber ein Härtetest der unerwarteten Art
Es ist mir bis heute ein Rätsel, wie man sich in mein jugendliches Ich verlieben konnte. Ich war gerade 18 geworden, war sehr groß und dünn, trug einen Pferdeschwanz und sah insgesamt aus wie eine Schnake (sagte mein bester Freund, und im Nachhinein klingt es nach einer blitzsauberen optischen Analyse). Ich hatte keine Hobbys in der Natur, aber eine vage Ahnung davon, dass das Draußensein ein bestimmender Teil meines Lebens werden könnte. Das Bergsteigen, der Schnee, die Gipfel zogen mich an. Der Drang zum Abhauen und Entdecken-Wollen war da. Der Haken: Ich lebte in einer westdeutschen Stadt an der holländischen Grenze. Große Steinkohle-Halden lagen deutlich näher als alpine Sehnsuchtsorte. Wenn wir Snowboarden wollten, nahmen wir den Bus nach Holland, um – klar: auf einer alten Steinkohlehalde – auf grünen Plastikmatten den Berg hinunter zu brettern. Bleibende Erinnerung: Keine goldenen Panorama-Sonnenuntergänge, dafür blutrote Brandwunden an Knie und Ellenbogen.
Das konnte so nicht weitergehen. Also rasierte ich meine Haare ab, nahm meinen Mut zusammen und fragte meine damalige Freundin, ob sie mit mir sechs Wochen durch Norwegen wandern wolle. Ein paar Tage später kamen wir mit dem Nachtzug in Oslo an. In der ersten Nacht mussten wir im Sitzen schlafen, weil es so viel regnete, dass das Zelt plötzlich zur Hälfte in einem See stand. Dass aus Regen später Schnee werden würde, konnten wir da noch nicht ahnen. Dass es jeden einzelnen Tag der sechswöchigen Reise wie aus Eimern gießen würde, erst recht nicht.
Wir hatten gelernt, dass es manchmal doch sinnvoll ist, große Wanderungen sorgfältig zu planen, die Wetterlage genau zu studieren
Einmal begegneten wir im Nieselnebel dem Redakteur einer Lokalzeitung. Wir schafften es mit der Meldung, dass zwei planlose Teens seit einem Monat durch den Regen der Westküste wanderten, am nächsten Morgen auf die Titelseite. Am gleichen Tag hielt ein Mann biblischen Alters, also etwa 40, der auf seinem Rücksitz alte Ölgemälde transportierte, während wir durch die Pfützen am Straßenrand stapften, mit seiner roten Limousine an. Er fragte, was wir da eigentlich machen würden, und ob er uns nicht lieber auf seine Familienhütte auf einer Insel in den Fjorden mitnehmen solle. Er würde da ein paar Tage bleiben, wir wären herzlich willkommen. Am Abend ruderten wir mit einem kleinen Holzboot aufs Meer hinaus. Es war 23 Uhr und die untergehende Sonne reflektierte auf der windstillen Wasseroberfläche. Ich angelte die erste und bis heute leckerste Makrele meines Lebens.
Kurz darauf beendeten meine Freundin und ich die Tour. Wir hatten gelernt, dass es manchmal doch sinnvoll ist, große Wanderungen sorgfältig zu planen, die Wetterlage genau zu studieren. Das nächste, vollgesogene Tiefdruckgebiet kündigte sich an. Wir gaben auf. Meine Freundin nahm die Fähre von Stavanger nach Newcastle. Sie wollte lieber Freunde in London besuchen. Ich blieb im Regen stehen, blickte der Fähre hinterher, ließ eine Träne in eine Pfütze tropfen und erinnerte mich an den Anfang unserer Reise. Die Mutter meiner Freundin schüttelte wohlwollend den Kopf und flüsterte ihrer Tochter zu: „Wenn du sechs Wochen mit dem Typen durch ein zehn Grad kaltes Land wanderst, dann weißt du anschließend wenigstens, woran du bist.“
Das war vor 22 Jahren. Diesen Sommer fahren wir wieder nach Norwegen. Für unsere beiden 3- und 5-Jahre alten Töchter haben wir gute Regenjacken gekauft.