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Unterwegs

Gravelbike im Selbstversuch: Ein Punk am Passo Stelvio

  • Florian von Stuckrad
  • 26. Oktober 2020

Wie ein Mountainbiker dem Gravel-Trend verfällt und am zweithöchsten Pass der Alpen Grenzerfahrungen sammelt.


»Das kannst du doch nicht ernst meinen!« »Wirst du jetzt Spießer? « »Rasierst du dir jetzt deine Beine? «

Als passionierter Mountainbiker muss man sich wohl solche Fragen von seinen Bikefreunden anhören, wenn man sich entschließt, dem Trendsport Gravel-Biken auf den Zahn zu fühlen.

Wenn ich ehrlich bin, hat mich an Gravelbikes von jeher die schier unendlich große Bandbreite der Einsatzmöglichkeiten und Reichweite fasziniert. So war klar, dass die Erweiterung meiner Zweirad-Passion nicht direkt zum Rennrad, sondern nur über diese vielleicht vielseitigste Art des Fahrradfahrens führen kann.

Als Ergänzung zu meinem Enduro-Fuhrpark bot sich das »Punk« aus dem Stall Alutech an, denn: Ein Punk will anders sein und gegenüber den Obrigkeiten aufbegehren. Er neigt zum Eskalieren. Eine Rebellion oder besser »Gravellion“ gegen das Bestehende.

Das klang in meinen Ohren zumindest frech und spannend und hatte nichts mit irgendwelchen Vorstellungen gemeinsam, dass so ein Bike langweiliger sein muss als ein Enduro MTB. Vielmehr klang das nach dem perfekten Zweitbike für Trail und Gravity Biker.

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48 Kehren gilt es auf dem Weg nach oben zu durchradeln.

Der Punk im ersten Praxistests

Trotz der offensichtlichen Unterschiede zum MTB wie einem viel schmalerer Lenker mit ungewohnter Griffhaltung, einer sportlicheren Sitzposition und der fehlenden Federung dominierte sofort ein bisher unbekannter Vortriebsdrang alle anderen Eindrücke. Man fliegt förmlich an anderen Radlern vorbei. Abseits von geteerten Straßen und Waldwegen wünscht man sich auf wurzeldurchsetzten Trails allerdings einen Gebissschutz. Hier werde ich wohl auch künftig lieber das MTB bevorzugen und den auf den Isartrails entgegenkommenden Gravelbikern weiterhin verständnislos Mitleid bekunden.

Im Laufe der ersten Wochen vertiefe ich mich immer mehr in die Materie und der Spaß an längeren Touren jenseits der 100 Kilometer wächst. Ich bin nun definitiv vom Gravelfieber infiziert, ohne jedoch dabei auf meine geliebten MTB-Enduro-Touren zu verzichten. Es tritt genau das ein, was ich mir erhofft habe: Kein »Entweder-Oder«, sondern eine Range-Erweiterung meines geliebten Sports.

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Eskalation am Passo Stelvio

Der Passo dello Stelvio, zu Deutsch Stilfser Joch, ist der zweithöchste mit dem Rennrad befahrbare Pass der Alpen. Jeder Roadie, der etwas auf sich hält, sollte ihn einmal im Leben bezwungen haben. Knapp 2000 Höhenmeter schraubt sich die Straße im Schatten des Ortlers über 48 Kehren nach oben.

Als mich zwei Freunde – beide eingefleischte Rennradfahrer – fragten, ob ich trotz meiner noch jungen Gravel-Kariere Lust auf dieses Abenteuer hätte, war ich sofort begeistert, denn ich hatte mit diesen Jungs schon einige unvergessliche, wenn auch leicht unvernünftige, waghalsige Unternehmungen absolviert. Eines hatten diese Touren immer gemeinsam: Sie blieben für lange Zeit im Gedächtnis.

Mit viel zu wenig Schlaf und unzureichendem Frühstück nahmen wir in Prad, etwa 3,5 Stunden Fahrzeit von München, den Pass in Angriff. Die Flaschen gefüllt mit Elektrolyten, ein Haufen Riegel in den Trikottaschen und mit jeder Menge Respekt vor der bevorstehenden Challenge pedalierten wir vorsichtig die ersten Kilometer bei gut erträglicher Steigung Richtung erster Kehre (Tornata 48).

Mich beschlich ein ungutes Gefühl, da der Weg bis zur ersten Kehre länger dauerte als den Beschreibungen und Berichten zu entnehmen war. Warmgefahren und überglücklich, dass ich den leichtesten Gang durch Nachjustierung der Zugspannung nun doch fahren konnte (auch eine Gravel- Schaltung muss man erst verstehen lernen), fuhren wir durch den Wald Richtung Baumgrenze. Es wurde immer steiler. Neben den an uns vorbei rasenden Motorradhorden und Sportwagen überholten uns einige E-Biker, die unseres Neids gewiss sein konnten. Was hätten wir um ein klein wenig elektrische Unterstützung gegeben.

Was für ein Ausblick: Der Passo dello Stelvio (oder Silfser Joch) in italienischen Ortler-Alpen.

Kampf gegen Krämpfe

Bei Kehre 34 lichtete sich der Wald und legte den Blick auf das gigantische Felsmassiv frei, das sich vor uns auftürmte. Ganz oben konnte man die Station der Passhöhe sehen, die über eine serpentinendurchsetzte Rampe erreicht werden konnte. Spätestens jetzt war der Spaß vorbei, denn uns wurde klar, dass uns dieser Pass jede noch so kleine Reserve entlocken wird.

Neben der Erschöpfung begannen kleine Krämpfe in der hinteren Oberschenkelmuskulatur unseren Vortrieb zu beeinflussen. Die Qual begann und zwei nicht geplante Zwischenstopps wurden krampfbedingt nötig. Wer diese Art von Krämpfen kennt, der weiß, dass man ihnen nicht entkommen kann. Im Gegenteil: Sie kommen in immer rascherer Abfolge und außer viel Trinken und Gelzufuhr kann man ihnen kaum etwas entgegensetzen. Jetzt schmerzten nicht nur einige Muskeln. Der ganze Körper signalisierte Aufgabebereitschaft. Mit letzter Kraft unter der Anfeuerung von Rob und Xandi mobilisierte ich die allerletzten Reserven, bis ich endlich den Pass erreichte.

Hochgefühl am Ziel

Restlos ausgepowert und überglücklich schleppten wir uns auf dem vielleicht höchsten Rummelplatz der Alpen zu einer freien Bank und belohnten uns mit einem Bier und ein paar Souvenirs. Eine Stelvio-Rennradmütze und ein Abzeichen sollen unsere Leistung bezeugen. Die beste und bei weitem nachhaltigere Belohnung jedoch ist die fulminante Aussicht und das unvergleichliche Gefühl, oben angekommen zu sein.

Auch der Punk steht zufrieden neben uns und sonnt sich in den staunenden Blicken zahlreicher italienischer Rennradfahrer, die wie Bienen von der auffälligen Farbe angezogen wurden.

Es steigt die Vorfreude auf das, was vor uns liegt: Die Abfahrt.

Die rasante Abfahrt ist die perfekte Belohnung nach dem harten Weg nach oben.

Danke, Punk!

Mit bis zu 70 Sachen rasen wir zumeist kontrolliert die Passstraße nach unten und liefern uns kleine Verfolgungsjagden mit motorisierten Störenfrieden. Außen anfahren, in die Mitte ziehen und wieder kontrolliert raustragen lassen. Diese Abfolge geschah nach 48 Wiederholungen so kontrolliert und intuitiv. Hier kam ich auch in den Genuss meiner Gravelbike-Vorteile, denn obwohl die profilierten, dickeren Reifen gegenüber dem Rennrad etwas mehr Rollwiderstand aufweisen, lassen sie sich viel kontrollierter und sicherer über den teils aufgerissenen, unebenen Straßenbelag steuern.

Im Adrenalinrausch und mit steifem Genick erreichten wir überglücklich unseren Parkplatz. Gegenseitiges Abklatschen, Schulterklopfen und raus aus den nassen, mit Salz durchzogenen Klamotten. Auf der vierstündigen Rückfahrt alles an Impressionen der Südtiroler Alpen aufsaugen und vor sich hinträumend nochmal die besten Tour-Momente Revue passieren lassen. Das sind die Momente, in denen mir der Sport mehr gibt als die Strapazen bis dorthin abverlangen. Ein Hochgefühl!

Danke, Punk! Danke, Gravelbike für diese Tour-Erfahrung! Definitiv nicht die letzte und auch nicht die Abkehr vom geliebten Mountainbiken - aber eine bereichernde, neue Variante beim Ausleben meiner Passion. Ich bin jetzt Graveltybiker!

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