Welche Zielgruppen sind die Zukunft der Sportbranche? Professor Gerhard Huber sieht einen Großteil der Industrie bei dieser Frage auf dem Holzweg. Besser machen es seiner Meinung nach Adidas und Puma.
ISPO.com sprach mit ihm über die Rolle der Bewegung für die Gesundheit, den Status quo des Sports in der Gesellschaft und die Folgen daraus für Sportartikelhersteller.
ISPO.com: Herr Huber, wie viel Bewegung braucht der menschliche Körper eigentlich?
Prof. Gerhard Huber: Die übereinstimmende Meinung aller wesentlichen Sachverbände weltweit ist, dass sich jeder Mensch 30 Minuten am Tag bewegen sollte.
Das kann mit dem Fahrrad zur Arbeit fahren sein, Gartenarbeit oder Treppensteigen. Am Ende des Tages ist es relativ egal, wie man das macht. Man sollte jedoch mindestens auf die 30 Minuten kommen und das mindestens fünfmal die Woche.
Das klingt, als müsste ich gar keinen Sport machen?
Auch wenn das die Sportartikelindustrie nicht gern hört, aber das hat mit Sport gar nichts zu tun. Das ist in aller Regel Alltagsbewegung. In vielen Köpfen ist noch immer das alte Sportmodell. Der menschliche Körper ist aber nicht darauf konzipiert einmal die Woche Sport zu machen oder zweimal die Woche ins Fitnessstudio zu gehen, sondern er ist für tägliche Bewegung konstruiert.
„Branche spricht kleiner werdenden Sektor an“
Wie viele Menschen erreichen dieses Bewegungspensum von 30 Minuten am Tag?
Gerade mal 15 Prozent der deutschen Bevölkerung erreichen es, sich 30 Minuten am Tag zu bewegen. Diese schaffen das meistens nicht durch Alltagsbewegung, sondern weil sie gezielt zum Beispiel ins Fitnessstudio gehen.
Die anderen 85 Prozent, die sich keine 30 Minuten am Tag bewegen, können das Bewegungsziel allerdings nur mit Alltagsbewegung erlangen. Ich bin kein Marketing-Experte, aber die Sportartikelindustrie hat eine gigantische Chance, diese 85 Prozent marketing-technisch als Zielgruppe zu gewinnen und Bewegung in ihren Alltag zu bringen.
Warum erreicht die Sportartikelindustrie diese 85 Prozent nicht?
Der Zugang der Sportartikelbranche ist nicht der Alltag. Wobei ich nicht nur Kritik daran übe, dass es um Sport geht. Man könnte ja sagen, Sport ist ein guter Zugang. Es ist eine körperliche Aktivität, die Freude bereitet.
Mir fällt auf, dass die Sportartikelbranche mit völlig falschen Botschaften die völlig falsche Zielgruppe anspricht. Nämlich den immer kleiner werdenden Sektor von Menschen, die sportlich sind und die bereits Zuwendungsmotive haben. Ich muss aber diejenigen versuchen zu erreichen, die noch nicht überzeugt sind.
Arbeitsweg statt Marathon
Was für falsche Botschaften wären das?
Die Sportkleidung ist grell, bunt und so geschnitten, dass sie nicht über den BMI 30 hinausgeht. Der übergewichtige 45-Jährige mit Bluthochdruck, für den es dringend notwendig wäre, dass er sich bewegt, wendet sich dem Sport zu und sieht nur junge athletische Menschen, die völlig das Gegenteil von ihm selbst sind.
Solche Darstellungen führen zu sogenannten kognitiven Dissonanzen. Er fühlt sich dort natürlich nicht aufgehoben und wendet sich dem Sport ab.
Wie vermeidet die Sportartikelindustrie kognitive Dissonanz?
Sie muss niedrigere Nutzerbarrieren schaffen und sagen: „Es ist nicht viel, was du da tun musst, aber du musst es tun.“ Die Wearables-Branche mit Polar, Garmin und tomtom präsentieren ihre Produkte hingegen, als würde jeder auf einen Marathon trainieren.
Die Leute sollen einfach messen, ob sie die 30 Minuten Bewegung am Tag schaffen. Und sie muss Produkte herstellen, die dazu motivieren aufzustehen und sich zu bewegen. Was spricht denn dagegen, dass jemand Walking-Schuhe zur Arbeit anhat und man ihn dann drauf anspricht: „Ist doch super, wenn du zur Arbeit gehst! Da tust du was für deine Gesundheit!“
Kunden-Input als Weg aus der Krise
Was die Sportartikelindustrie noch lernen muss, was andere Industrien schon besser verstanden haben: Co-Creation. Das heißt, wir schaffen unser Produkt gemeinsam mit dem Kunden.
Zum Beispiel könnte man einen Schuh entwickeln, der gut ist, um morgens zur Arbeit zu gehen, aber auch funktionelle Gesichtspunkte mit einbezieht. Die Sportartikelindustrie interessiert sich aber kaum für die Bedürfnisse der Menschen und schneidet ihre Produkte auch nicht nach ihnen zu.
Was wäre der erste Schritt?
Der erste Schritt wäre es zu erkennen, wie die große Gesamtheit der 82 Millionen Menschen in Deutschland ist. Und die ist eben nicht so, wie das, was die Sportartikelindustrie im Fokus hat. Ein Sektor ist beispielsweise die Rehabilitation.
Wie groß ist dieser Sektor?
Es gibt jedes Jahr über 1,2 Millionen Reha-Verfahren. Das sind Menschen, die oft keine Sportschuhe und Klamotten haben – um die kümmert sich kein Mensch. Warum nicht mal in eine Klinik gehen und fragen „Was möchten sie denn? Die grauen Kuranzüge anziehen oder möchten sie gemeinsam mit uns etwas entwickeln?“ Diese Menschen hat marketing-technisch noch keiner entdeckt.
Appell an die Sportartikelbranche
Warum hat die Sportartikelindustrie bis jetzt noch nichts in diese Richtung getan?
Weil wohl genug Umsatz gemacht wird. Es gibt noch genug Menschen, die sich jedes Jahr neue Klamotten kaufen und für Umsatz sorgen. Das zeigen ja auch die Rekordzahlen der diesjährigen ISPO MUNICH.
Aber ein gutes Beispiel sehen wir mit Adidas. Adidas und Puma haben insofern viel erreicht, als es schick ist, ihre Sachen im Alltag zu tragen – eine erfolgversprechende Richtung.
Was wäre Ihr Appell an die Sportartikelbranche?
Kümmert euch um die 85 Prozent, die sich nicht genug bewegen! Versucht sie miteinzubeziehen und erkennt, dass es ein Riesen-Deal sein kann, nicht unbedingt die Menschen aus dem Alltag in den Sport zu ziehen, sondern den Sport in den Alltag zu bringen!
Wir sehen an unzähligen Studien, dass sich die Menschen mehr bewegen müssen. Und wir wären froh, wenn uns die Sportartikelindustrie dabei helfen würde.
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